OLG Hamm – Az.: 6 U 107/15 – Urteil vom 22.12.2016
Auf die Berufung des klagenden Landes wird der Beklagte unter Abänderung des am 27.04.2015 verkündeten Urteils der 3. Zivilkammer des LG Essen, Az. 3 O 26/15, verurteilt, an das klagende Land 13.315,83 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz auf einen Betrag von 5.985,76 EUR seit dem 16.11.2013 und auf einen weiteren Betrag von 7.330,07 EUR seit dem 09.03.2015 zu zahlen.
Wegen der weitergehenden Zinsforderung bleibt die Klage unter Zurückweisung der Berufung abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Kosten der Nebenintervention trägt der Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
(abgekürzt gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 ZPO)
I.
Das klagende Land macht aus übergegangenem Recht wegen eines behaupteten Sturzes der beihilfeberechtigten Frau L vom 25.01.2013 Ansprüche wegen Verletzung der Räum- und Streupflicht geltend.
Der Beklagte war am 25.01.2013 Mieter von Räumlichkeiten im Erdgeschoss und im Keller der Immobilie H-Straße in … F, in denen er eine SB-Bäckerei betrieb. Er war zunächst Untermieter der Agentur S, die mit Mietvertrag vom 18.07.2006 (Bl. 17 f. GA) nebst Sondervereinbarung von diesem Tag (Bl. 15 f. GA) die Räumlichkeiten von der Streithelferin gemietet hatte. Mit Vereinbarung vom 21.10.2011 (Bl. 19 GA) trat der Beklagte in diesen Mietvertrag ein.
Das klagende Land erbrachte auf die sturzbedingten Behandlungskosten der Frau L unstreitig Beihilfeleistungen in Höhe von 13.315,83 EUR, wobei wegen der Einzelheiten zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Klageschrift vom 29.01.2014 nebst Anlagen Bezug genommen wird.
Mit Schreiben vom 27.09.2013 (Bl. 20 f. GA), dem Beklagten zugestellt am 30.09.2013 (Bl. 22 GA), setzte das klagende Land dem Beklagten wegen der Zahlung eines Betrages von 5.985,76 EUR eine Frist bis zum 15.11.2013. Der Beklagte lehnte den Ausgleich der Schäden sodann ausdrücklich ab.
Das klagende Land hat behauptet, Frau L sei am 25.01.2013 mit dem Taxi zu der in der Immobilie befindlichen Zahnarztpraxis gefahren. Sie sei am Arm des Taxifahrers, des Zeugen X, zum Praxiseingang gegangen. Gleichwohl sei sie auf dem Glatteis auf der Stufe zum Auftrittspodest zum Eingang der Zahnarztpraxis ausgerutscht und gemeinsam mit dem Zeugen gestürzt.
Das klagende Land hat die Rechtsmeinung vertreten, dass die Delegation der Verkehrssicherungspflicht hinreichend klar sei, weil das Auftrittspodest das einzige Podest im Hofbereich sei.
Das klagende Land hat beantragt, den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger 13.315,83 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 30.09.2013 zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hat den Unfall, den Unfallzeitpunkt sowie den nicht geräumten Zustand der Wege samt Podest sowie der Zufahrt bestritten.
Er hat die Rechtsmeinung vertreten, aus einer früheren Sondervereinbarung ergebe sich, dass die Erdgeschossmieter nur noch für die Räumung vor dem eigenen Bereich zuständig sein sollten. Der Treppenbereich gehöre jedoch zu der im Gebäude befindlichen Zahnarztpraxis und habe nichts mit der vom Beklagten betriebenen Bäckerei zu tun.
Das Landgericht hat den Beklagten zu den örtlichen Verhältnissen persönlich angehört und die Klage abgewiesen. Die Verkehrssicherungspflicht sei nicht wirksam auf den Beklagten delegiert worden. Es lasse sich nicht feststellen, dass mit der Formulierung „vor dem eigenen Bereich“ ein dem Beklagten bzw. dessen Gewerbebetrieb zuzuordnender Bereich gemeint sein solle. Der Eingang des Ladenlokals befinde sich auf der anderen Seite, der Treppenbereich sei der Zahnarztpraxis zuzuordnen. Mangels anderweitigen Vortrages der Parteien sei davon auszugehen, dass dieser Zahnarzt insoweit auch Mieter des Erdgeschossbereiches sei. Jedenfalls sei die Regelung nicht hinreichend klar. Zudem müssten, wenn mehrere Mieter in Betracht kommen, Regeln aufgestellt sein, die im Einzelnen festlegen, wer von mehreren Mietern wann mit dem Winterdienst beauftragt ist.
Hiergegen wendet sich das klagende Land mit seiner Berufung. Die Zahnarztpraxis befinde sich tatsächlich im Obergeschoss. Ausweislich der Anhörung des Beklagten befinde sich an der einzigen im Bereich des Auftrittspodestes befindlichen Tür auch der Briefkasten der Bäckerei des Beklagten, die Tür führe zudem zum Keller des Gebäudes und zum Lager der vom Beklagten betriebenen Bäckerei.
Das klagende Land und die auf Seiten des klagenden Landes im Berufungsverfahren beigetretene Streithelferin, die Vermieterin des Beklagten, beantragen,
das am 27.04.2015 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des LG Essen, Az. 3 O 26/15, abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger 13.315,83 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 30.09.2013 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt die angegriffene Entscheidung unter Wiederholung seiner erstinstanzlichen Argumentation.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen X. Wegen der Einzelheiten wird auf den Vermerk des Berichterstatters über den Senatstermin vom 12.09.2016 Bezug genommen. Auf einen Auflagenbeschluss des Senates vom 12.09.2016 hat der Beklagte ergänzend vorgetragen, dass im Erdgeschossbereich die weiteren Räumlichkeiten für den Betrieb eines Damenmodegeschäftes vermietet seien. Zudem hat der Beklagte ergänzend vorgetragen, dass sich unmittelbar hinter dem Glaselement, das zum Unfallzeitpunkt mit einer Hinweisbeschriftung zur Zahnarztpraxis beschriftet war, die von ihm betriebene Backstube befinde. Zudem hat die Streithelferin einen Grundriss des Gebäudes (Bl. 249 GA) vorgelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Inhalt der Akte Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung des klagenden Landes hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Klage hinsichtlich eines Teils der geltend gemachten Verzugszinsen abzuweisen ist.
1. Das klagende Land hat gegen den Beklagten im Umfang der erbrachten Beihilfeleistungen einen Ersatzanspruch aus übergegangenem Recht gem. § 82 LBG NRW a.F. bzw. gem. § 81 LBG NRW n.F. in Höhe der Klageforderung, weil die beihilfeberechtigte Frau L ihrerseits einen Schadensersatzanspruch in dieser Höhe gegen den Beklagten aus § 823 BGB wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht hat.
a) Die Streithelferin hat die ursprünglich sie als Grundstückseigentümerin treffende Verkehrssicherungspflicht wirksam auf den Beklagten als ihren Mieter übertragen. Verkehrssicherungspflichten können mit der Folge eigener Entlastung delegiert werden. Die Verkehrssicherungspflichten des ursprünglich Verantwortlichen verkürzen sich dann auf Kontroll- und Überwachungspflichten. Wer sie übernimmt wird seinerseits deliktisch verantwortlich. Voraussetzung hierfür ist, dass die Übertragung klar und eindeutig vereinbart wird. Entscheidend für die deliktische Einstandspflicht des Übernehmenden ist nicht die Rechtswirksamkeit des mit dem Primärsicherungspflichtigen geschlossenen Vertrages, sondern dass der in die Verkehrssicherungspflicht Eintretende faktisch die Verkehrssicherung für den Gefahrenbereich übernimmt und im Hinblick hierauf Schutzvorkehrungen durch den primär Verkehrssicherungspflichtigen unterbleiben, weil sich dieser auf das Tätigwerden des Beauftragten verlässt (BGH, Urteil vom 22.01.2008, Az. VI ZR 126/07, NJW 2008, 1440, Tz. 9 m. w. N.).
Der zwischen der Streithelferin und dem Beklagten geschlossene Mietvertrag genügt diesen Anforderungen. Mit Vereinbarung vom 21.10.2011 ist der Beklagte in den der Vereinbarung angefügten Mietvertrag zwischen der Streithelferin und Herrn P und ebenso in die getroffene Sondervereinbarung eingetreten. In dieser Sondervereinbarung vom 18.07.2006 heißt es ausdrücklich:
„Die Erdgeschossmieter übernehmen die Reinigung und das Schneeräumen des Bürgersteiges an der H-Straße und des Auftrittspodestes inkl. der Treppen im Hofbereich vor dem eigenen Bereich.“
In dieser Formulierung liegt hinsichtlich der Sturzstelle eine eindeutige und klar bestimmte Übertragung des Winterdienstes auf den Beklagten. Denn neben dem Beklagten ist nur ein weiterer Erdgeschossmieter vorhanden, die von diesem weiteren Mieter angemieteten Räume grenzen jedoch anders als die durch den Beklagten gemieteten Räume nicht an das Auftrittspodest an. Dies ergibt sich aus der durch das Landgericht unterlassenen und durch den Senat nachgeholten Klärung der örtlichen Verhältnisse.
Da sich die Zahnarztpraxis ausschließlich im Obergeschoss befindet, kann allein der Umstand, dass das Auftrittspodest als Zugang zur Zahnarztpraxis dient (Foto Bl. 101 GA) angesichts der nach dem Wortlaut der Regelung eindeutigen Übertragung des Winterdienstes auf „die Erdgeschossmieter“ nicht zu Unklarheiten führen.
Die zur wirksamen Übertragung der Verkehrssicherungspflicht erforderliche Bestimmtheit scheitert auch nicht daran, dass neben dem Beklagten ein weiterer Erdgeschossmieter, und zwar der Betreiber des Modegeschäftes, vorhanden war. Die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen beiden Erdgeschossmietern erfolgt durch den Zusatz „vor dem eigenen Bereich“. Das Glaselement mit der Hinweisbeschriftung der Zahnarztpraxis nimmt die gesamte Breite des Auftrittspodestes ein. Zudem ergibt sich auch aus dem durch die Streithelferin vorgelegten Grundriss des Gebäudes (Bl. 249 GA), dass das Auftrittspodest nicht an den Bereich des Modegeschäftes, sondern nur an den durch den Beklagten gemieteten Bereich angrenzt. Danach fehlt es der vereinbarten Übertragung der Verkehrssicherungspflicht nicht an der erforderlichen Bestimmtheit.
b) Der Beklagte hat schuldhaft gegen die aufgrund der wirksamen Delegation ihn treffende Räum- und Streupflicht verstoßen.
Die winterliche Räum- und Streupflicht beruht auf der Verantwortlichkeit durch Verkehrseröffnung und setzt eine konkrete Gefahrenlage, d.h. eine Gefährdung durch Glättebildung bzw. Schneebelag voraus. Grundvoraussetzung für die Räum- und Streupflicht auf Straßen oder Wegen ist das Vorliegen einer allgemeinen Glätte und nicht nur das Vorhandensein einzelner Glättestellen. Ist eine Streupflicht gegeben, richten sich Inhalt und Umfang nach den Umständen des Einzelfalls. Bei öffentlichen Straßen und Gehwegen sind dabei Art und Wichtigkeit des Verkehrswegs ebenso zu berücksichtigen wie seine Gefährlichkeit und die Stärke des zu erwartenden Verkehrs. Die Räum- und Streupflicht besteht also nicht uneingeschränkt. Sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auch auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt. Nach diesen Grundsätzen bestehen Räum- und Streupflichten regelmäßig für die Zeit des normalen Tagesverkehrs. Bei Auftreten von Glätte im Laufe des Tages ist allerdings dem Streupflichtigen ein angemessener Zeitraum zuzubilligen, um die erforderlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Glätte zu treffen (BGH, Urteil vom 12.06.2012, Az. VI ZR 138/11, Tz. 10 f., zitiert nach juris, m. w. N.).
Allgemeine Glätte in diesem Sinne lag am Unfalltag vor. Der Senat folgt den Angaben des Zeugen X. Der Zeuge, der die Geschädigte als Taxifahrer gefahren hat, hat keinerlei Eigeninteresse am Ausgang des Rechtsstreits. Er hat im Rahmen seiner Vernehmung einen glaubwürdigen Eindruck gemacht. Der Senat ist auch davon überzeugt, dass der Zeuge X tatsächlich erlebte Wahrnehmungen geschildert hat. Denn er hat im Rahmen seiner Vernehmung zunächst danach gefragt, worum es gehe und dann dem Namen seiner Kundin Frau L spontan deren Wohnanschrift zugeordnet. Der Senat folgt auch den Angaben des Zeugen X in der Sache. Er hat bestätigt, dass es spiegelglatt gewesen sei, und zwar nicht nur an der eigentlichen Sturzstelle sondern auf dem gesamten Weg dorthin.
Auch in zeitlicher Hinsicht bestand die Räum- und Streupflicht, denn der Sturz ereignete sich auf dem Weg der Geschädigten zu einem Zahnarzttermin und damit während der Öffnungszeiten der Zahnarztpraxis und während des üblichen Publikumsverkehrs.
Unter Berücksichtigung der aufgrund der örtlichen Verhältnisse eindeutigen Delegation des Winterdienstes auf ihn hat der Beklagte auch schuldhaft gehandelt.
c) Auf Basis der Aussage des Zeugen X ist der Senat auch davon überzeugt, dass sich der Sturz der Geschädigten auf der Treppe des Auftrittspodestes ereignet hat. Zudem ist der Senat davon überzeugt, dass die Geschädigte glättebedingt stürzte, nachdem der Zeuge X ausgesagt hat, dass es dort spiegelglatt gewesen sei und die Geschädigte Frau L ausgerutscht sei, obwohl er sie am Arm geführt habe, wie er das immer bei älteren Leuten mache. Da Frau L innerhalb der räumlichen und zeitlichen Grenzen der Räum- und Streupflicht gestürzt ist, spricht zudem ein Anscheinsbeweis dafür, dass es ohne die Pflichtverletzung nicht zu einem Unfall gekommen wäre, dass mithin die Pflichtverletzung ursächlich für das Schadensereignis geworden ist (BGH, Urteil vom 20.06.2013, Az. III ZR 326/12, zitiert nach juris, Tz. 16; Beschluss vom 26.02.2009, Az. III ZR 225/08, Tz. 5).
d) Da die durch den Sturz entstandene Körperverletzung sowie die vom klagenden Land ersetzten Behandlungskosten unstreitig sind und tatsächliche Anhaltspunkte für ein Mitverschulden der durch den Zeugen X gestützten Klägerin weder vorgetragen noch ersichtlich sind, hat das klagende Land Anspruch auf den in der Hauptsache geltend gemachten Betrag von 13.315,83 EUR.
2. Hinsichtlich des geltend gemachten Zinsanspruchs ist die Klage nur teilweise begründet. Mit dem als Anlage K4 zur Klageschrift (Bl. 20 GA) vorgelegten Schreiben des M Nordrhein-Westfalen vom 27.09.2013, das am 30.09.2015 zugestellt worden ist, wurde dem Beklagten nur hinsichtlich eines Teilbetrages von 5.985,76 EUR eine Zahlungsfrist gesetzt. Die in diesem Schreiben enthaltene erstmalige Meldung des M beim Beklagten führt in Verbindung mit der gesetzten Zahlungsfrist und den weiteren Erläuterungen zu der Auslegung, dass Verzug gem. § 286 BGB noch nicht mit Zugang dieses Schreibens, sondern erst mit Ablauf der gesetzten Zahlungsfrist bis zum 15.11.2013 eingetreten ist (vgl. Palandt-Grüneberg, BGB, 75. Auflage 2016, § 286 Rn. 17).
Da das klagende Land zum Zeitpunkt der behaupteten Leistungsverweigerung des Beklagten nicht vorgetragen hat, besteht hinsichtlich des weitergehenden Betrages nur ein Anspruch auf Prozesszinsen gem. §§ 291, 288 Abs. 1 S. 2 BGB.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 101 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Ziffer 10, 713 ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Revision zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.