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Hohes Alter des Mieters schützt nicht unbedingt vor Mietvertragskündigung

BGH – Az.: VIII ZR 68/19 – Urteil vom 03.02.2021

Leitsätze:

1. Zu den Voraussetzungen einer nicht zu rechtfertigenden Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB (im Anschluss an Senatsurteil vom 22. Mai 2019 – VIII ZR 180/18, BGHZ 222, 133).

2. Das hohe Alter eines Mieters begründet ohne weitere Feststellungen zu den sich hieraus ergebenden Folgen für den betroffenen Mieter im Falle eines erzwungenen Wohnungswechsels grundsätzlich noch keine Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB (im Anschluss an Senatsurteil vom 22. Mai 2019 – VIII ZR 180/18, BGHZ 222, 133, Rn. 30).

3. Der Annahme, das hohe Lebensalter des Mieters gebiete auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters in der Regel die Fortsetzung des Mietverhältnisses, liegt eine unzulässige Kategorisierung der nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB abzuwägenden Interessen zugrunde (im Anschluss an Senatsurteil vom 22. Mai 2019 – VIII ZR 180/18, BGHZ 222, 133, Rn. 36 f.).

4. Eine langjährige Mietdauer lässt für sich genommen noch nicht auf eine tiefe Verwurzelung des Mieters am Ort der Mietsache schließen. Vielmehr hängt deren Entstehung maßgeblich von der individuellen Lebensführung des jeweiligen Mieters (Pflegen sozialer Kontakte in der Nachbarschaft etc.) ab (im Anschluss an Senatsurteil vom 22. Mai 2019 – VIII ZR 180/18, BGHZ 222, 133, Rn. 30).

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Berlin – Zivilkammer 67 – vom 12. März 2019 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als bezüglich des auf die Kündigungen wegen Eigenbedarfs vom 3. August 2015, vom 26. September 2016 und vom 5. Dezember 2016 gestützten Räumungs- und Herausgabeverlangens der Klägerin zu ihrem Nachteil erkannt worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerde- und des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Die 1932 geborene Beklagte und ihr 1934 geborener, inzwischen verstorbener Ehemann, der ehemalige Beklagte zu 2, mieteten im Jahr 1997 von der Rechtsvorgängerin der Klägerin eine im vierten Obergeschoss gelegene Zweizimmerwohnung in Berlin.

Die Klägerin ist seit dem 17. Juli 2015 Eigentümerin dieser Wohnung. Mit Schreiben vom 3. August 2015 erklärte sie die ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses zum 31. Juli 2016 wegen Eigenbedarfs und wiederholte diese Erklärung vorsorglich in der Klageschrift vom 26. September 2016 sowie in einem weiteren Schriftsatz vom 5. Dezember 2016. Zur Begründung führte sie an, sie wolle während ihrer Aufenthalte in Berlin künftig nicht mehr – wie bisher – zusammen mit ihrem erwachsenen Sohn zur Miete, sondern stattdessen allein in der in ihrem Eigentum stehenden Wohnung leben.

Die Beklagte und ihr zwischenzeitlich verstorbener Ehemann widersprachen dieser Kündigung unter Verweis auf ihr hohes Alter, ihren beeinträchtigten Gesundheitszustand, ihre langjährige Verwurzelung am Ort der Mietsache und ihre für die Beschaffung von Ersatzwohnraum zu beschränkten finanziellen Mittel.

In der Folgezeit sprach die Klägerin weitere – nunmehr fristlose, hilfsweise ordentliche – Kündigungen des Mietverhältnisses gestützt auf verschiedene Verhaltensweisen der Beklagten und ihres mittlerweile verstorbenen Ehemanns aus.

Das Amtsgericht hat die auf Räumung und Herausgabe gerichtete Klage – nach Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens über die für die Beklagten zu besorgenden Kündigungsfolgen – abgewiesen und angeordnet (§ 308a Abs. 1 ZPO), dass das Mietverhältnis der Parteien über die betreffende Wohnung auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werde. Über die hilfsweise erhobene – auf Feststellung der unbefristeten Fortsetzung des Mietverhältnisses zu den bisherigen Bedingungen gerichtete – Widerklage der Beklagten und ihres mittlerweile verstorbenen Ehemanns hat es mangels Eintritts der Bedingung (Erfolglosigkeit des Klageabweisungsantrags) eine Entscheidung nicht getroffen. Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg gehabt.

Nachdem der Ehemann der Beklagten am 30. April 2019 – im Laufe des dem Revisionsverfahren vorausgegangenen Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde – verstorben ist, haben die Parteien den Rechtsstreit, soweit er den (ehemaligen) Beklagten zu 2 betroffen hat, in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt.

Mit der vom Senat – hinsichtlich der Klage beschränkt auf das auf die Kündigungen wegen Eigenbedarfs gestützte Räumungs- und Herausgabeverlangen – zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren sowie ihr auf Abweisung der Hilfswiderklage gerichtetes Begehren weiter.

Entscheidungsgründe

Die Revision hat – soweit sie eröffnet ist – Erfolg.

I.

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:

Die auf Eigenbedarf gestützten Kündigungen der Klägerin hätten nicht zur Beendigung des zwischen den Parteien bestehenden Mietverhältnisses geführt. Das Amtsgericht habe insoweit zu Recht die Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit angeordnet.

Die Beklagten hätten den Kündigungen form- und fristgerecht nach § 574b BGB widersprochen. Das Amtsgericht habe im Ergebnis auch zu Recht eine nicht zu rechtfertigende Härte für die Beklagten im Sinne von § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB bejaht.

Dabei könne dahinstehen, ob die vom Amtsgericht – auf der Grundlage des seinerseits eingeholten Sachverständigengutachtens – festgestellten Gesundheitsbeeinträchtigungen der Beklagten eine Härte rechtfertigten und ob die gegen die erstinstanzliche Beweiserhebung erhobenen verfahrensrechtlichen Einwände eine neuerliche Beweisaufnahme erforderten oder der Beweis des von der Klägerin in Abrede gestellten schlechten Gesundheitszustands der Beklagten aufgrund der vorgelegten ärztlichen Atteste prima facie geführt sei. Ebenso könne offenbleiben, ob die Beklagten sich mit Erfolg auf den Härtegrund des fehlenden Ersatzwohnraums (§ 574 Abs. 2 BGB) berufen könnten und ihnen dabei mit Blick auf die Mietenbegrenzungsverordnung des Landes Berlin Darlegungs- und Beweiserleichterungen zugute kämen. Denn bereits das hohe Lebensalter der Beklagten (von bereits über 80 Jahren zum Zeitpunkt der ersten Eigenbedarfskündigung) führe dazu, dass die kündigungsbedingte Beendigung des Mietverhältnisses für diese eine Härte im Sinne von § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB darstelle.

Der – in Rechtsprechung und Literatur umstrittenen – Auffassung, das hohe Alter des Mieters reiche aus, um eine nicht zu rechtfertigende Härte im Sinne von § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB zu begründen, gebühre – jedenfalls im Grundsatz – der Vorzug. Von den nachteiligen Folgen des unfreiwilligen Verlusts der eigenen Wohnung seien alte Menschen aufgrund der vielfältigen Beeinträchtigungen, die naturgemäß mit dem Altern einhergingen, besonders hart betroffen. Die biologischen sowie psychosozialen altersbedingten Veränderungen machten es alten Menschen nämlich außerordentlich schwer oder gar unmöglich, erfolgreich einen neuen auf Dauer angelegten Lebensmittelpunkt zu begründen.

Diese Wertung stehe im Einklang mit dem in Art. 25 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: EUGrdRCh) verbrieften Schutz älterer Menschen. Sollte der Anwendungsbereich dieser Bestimmung nicht eröffnet sein, wäre jedenfalls die Ausstrahlungswirkung der in der nationalen Verfassung verankerten Grundrechte, mithin auch der Wesensgehalt der in Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip verkörperten Menschenwürde, bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Härte“ zu beachten. Auch dies führe zu dem genannten Ergebnis.

Hinzu komme, dass die bei alten Menschen häufig – wie auch hier – über Jahrzehnte gewachsene soziale Verwurzelung am Ort der Mietsache den Erhalt oder gleichwertigen Neuaufbau sozialer Strukturen andernorts behindere oder sogar ausschließe.

Ein gegenteiliges Auslegungsergebnis hätte zur Folge, dass der letzte Lebensabschnitt eines alten Menschen von den Belastungen eines möglicherweise jahrelang dauernden Gerichtsverfahrens geprägt würde, in dem er zwecks Nachweises seiner Räumungsunfähigkeit die sachverständige Examination der eigenen Person unter Offenlegung sämtlicher höchstpersönlicher medizinischer und psychologischer Anknüpfungstatsachen zu erdulden hätte.

Dem Bestandsinteresse eines Mieters in (solch) hohem Alter komme deshalb – von hier nicht vorliegenden Ausnahmekonstellationen abgesehen – ein so erhebliches Gewicht zu, dass es das im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigende Erlangungsinteresse des Vermieters regelmäßig – so auch hier – übersteige. Zwar sei auch dem Erlangungsinteresse der Klägerin ein beträchtliches Gewicht nicht abzusprechen. Insbesondere sei die Lebensplanung der Klägerin dahingehend, während ihrer Aufenthalte in Berlin künftig nicht mehr wie bislang gemeinsam mit ihrem erwachsenen Sohn in einer Mietwohnung, sondern stattdessen alleine in der streitgegenständlichen in ihrem Eigentum stehenden Wohnung zu wohnen, zu respektieren. Allerdings sei die Dringlichkeit des geltend gemachten Eigenbedarfs als vergleichsweise gering anzusehen, weil der Eigennutzungswunsch zum einen nicht auf eine ganzjährige Nutzung und zum anderen auf bloßen Komfortzuwachs sowie die Vermeidung etwaiger wirtschaftlicher Nachteile durch die Anmietung einer weiteren Wohnung gerichtet sei.

Auch die auf verschiedene Verhaltensweisen der Beklagten gestützten Kündigungen begründeten, da sie jeweils unwirksam seien, den Räumungsanspruch der Klägerin nicht.

Die Hilfswiderklage habe das Amtsgericht mangels Eintritts der innerprozessualen Bedingung zu Recht nicht verbeschieden.

II.

Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung, soweit sie aufgrund des beschränkten Umfangs der Revisionszulassung eröffnet ist, nicht stand.

Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Anspruch der Klägerin auf Räumung und Herausgabe der von der Beklagten und ihrem verstorbenen Ehemann angemieteten Wohnung nach § 546 Abs. 1, § 985 BGB nicht verneint werden. Die Bewertung des Berufungsgerichts, die Beklagte könne die Fortsetzung des Mietverhältnisses nach §§ 574, 574a BGB auf unbestimmte Zeit verlangen, beruht auf revisionsrechtlich beachtlichen Rechtsfehlern. Das Berufungsgericht hat unzutreffende rechtliche Maßstäbe sowohl bei der Beurteilung des Härtebegriffs des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB als auch bei der nach dieser Vorschrift vorzunehmenden Abwägung der gegenläufigen Interessen der Mietvertragsparteien angesetzt, indem es angenommen hat, allein das hohe Alter eines Mieters rechtfertige die Bejahung einer Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB und gebiete im Rahmen der Interessenabwägung regelmäßig die Bejahung eines Anspruchs des Mieters auf Fortsetzung des Mietverhältnisses.

1. Noch rechtsfehlerfrei und von beiden Parteien unbeanstandet ist das Berufungsgericht in Übereinstimmung mit dem Erstgericht – ohne dies allerdings eigens näher zu erörtern – davon ausgegangen, dass die Eigenbedarfskündigungen der Klägerin vom 3. August 2015, vom 26. September 2016 und vom 5. Dezember 2016 gemäß § 573 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 BGB begründet sind. Die Bejahung einer Eigenbedarfssituation aus den bereits im ersten Kündigungsschreiben der Klägerin vom 3. August 2015 aufgeführten Gründen, namentlich der Wunsch, während ihrer Aufenthalte in Berlin künftig nicht mehr gemeinsam mit ihrem erwachsenen Sohn zur Miete, sondern stattdessen alleine in der in ihrem Eigentum stehenden, von der Beklagten innegehaltenen Wohnung zu leben, begegnet aus revisionsrechtlicher Sicht keinen Bedenken. Somit hat die Kündigung vom 3. August 2015 das Mietverhältnis nach den revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden (vgl. § 573c Abs.1, 4 BGB iVm Art. 229 § 3 Abs. 10 Satz 2 EGBGB) und auch von den Parteien nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts mit Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zum 31. Juli 2016 beendet.

2. Das Bestehen des geltend gemachten Räumungs- und Herausgabeanspruchs der Klägerin hängt danach – wie das Berufungsgericht ebenfalls noch zutreffend erkannt hat – davon ab, ob die Beklagte nach §§ 574, 574a BGB verlangen kann, das Mietverhältnis fortzusetzen. Denn nach den – wegen der Beschränkung der Revisionszulassung nicht der revisionsrechtlichen Nachprüfung unterliegenden – Feststellungen des Berufungsgerichts steht fest, dass die später zusätzlich erklärten außerordentlichen fristlosen Kündigungen (§ 543 Abs. 1 BGB) – bei denen eine Befugnis des Mieters, die Fortsetzung des Mietverhältnisses zu verlangen, nicht bestünde (§ 574 Abs.1 Satz 2 BGB) – unwirksam sind.

3. Rechtsfehlerhaft ist jedoch die Annahme des Berufungsgerichts, die Voraussetzungen für einen Anspruch der Beklagten auf Fortsetzung des Mietverhältnisses nach § 574 Abs. 1 Satz 1, § 574a BGB lägen allein wegen des fortgeschrittenen Alters der Beklagten vor.

a) Nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB kann der Mieter einer an sich gerechtfertigten ordentlichen Kündigung des Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für ihn oder seine Familie eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Bei der hierzu vom Tatrichter nach gründlicher und sorgfältiger Sachverhaltsfeststellung vorzunehmenden Gewichtung und Würdigung der beiderseitigen Interessen und ihrer Subsumtion unter die unbestimmten Rechtsbegriffe der genannten Bestimmung hat das Revisionsgericht den tatrichterlichen Beurteilungsspielraum zu respektieren und kann regelmäßig nur überprüfen, ob das Berufungsgericht Rechtsbegriffe verkannt oder sonst unzutreffende rechtliche Maßstäbe angelegt hat, ob es Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze hinreichend beachtet hat oder ob ihm von der Revision gerügte Verfahrensverstöße unterlaufen sind, indem es etwa wesentliche Tatumstände übersehen oder nicht vollständig gewürdigt hat (Senatsurteile vom 22. Mai 2019 – VIII ZR 180/18, BGHZ 222, 133 Rn. 26, und VIII ZR 167/17, NJW-RR 2019, 972 Rn. 30; jeweils mwN).

b) Einer an diesem (eingeschränkten) Maßstab ausgerichteten Prüfung hält die Beurteilung des Berufungsgerichts – und zwar sowohl hinsichtlich der Bejahung einer Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB (dazu nachfolgend aa) als auch hinsichtlich der nach dieser Vorschrift vorzunehmenden Abwägung der gegenläufigen Interessen der Mietvertragsparteien (dazu unter bb) – nicht stand.

aa) Auf der Grundlage der vom Berufungsgericht bislang getroffenen Feststellungen kann eine Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht bejaht werden.

Zwar ist das Berufungsgericht im Ansatz noch zutreffend davon ausgegangen, dass nur solche für den Mieter mit einem Umzug verbundenen Nachteile als Härtegründe im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB in Betracht kommen, die sich von den mit einem Wohnungswechsel typischerweise verbundenen Unannehmlichkeiten deutlich abheben (st. Rspr.; siehe etwa Senatsurteile vom 22. Mai 2019 – VIII ZR 180/18, aaO Rn. 28, und VIII ZR 167/17, aaO Rn. 31; jeweils mwN). Rechtsfehlerhaft hat es jedoch angenommen, allein das hohe Alter eines Mieters rechtfertige nach diesem Maßstab die Bejahung einer Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB. Es hat insoweit außer Acht gelassen, dass sich das hohe Alter eines Menschen je nach Persönlichkeit und körperlicher sowie psychischer Verfassung unterschiedlich auswirkt und dieser Umstand deshalb – wie der Senat mit seinem nach der Verkündung der angegriffenen Entscheidung ergangenem Urteil vom 22. Mai 2019 (VIII ZR 180/18, aaO Rn. 30) entschieden hat – ohne weitere Feststellungen zu den sich hieraus ergebenden Folgen für den betroffenen Mieter im Falle eines erzwungenen Wohnungswechsels grundsätzlich noch nicht eine Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB begründet.

(1) Das hohe Lebensalter eines Mieters kann in Verbindung mit weiteren Umständen – im Einzelfall auch der auf einer langen Mietdauer beruhenden tiefen Verwurzelung des Mieters in seiner Umgebung – bei der gebotenen wertenden Gesamtbetrachtung, mithin unter Berücksichtigung der sich aus diesen Faktoren konkret für den betroffenen Mieter ergebenden Folgen eines erzwungenen Wohnungswechsels, eine Härte begründen (vgl. Senatsurteil vom 22. Mai 2019 – VIII ZR 180/18, aaO). Insbesondere kann eine Härte zu bejahen sein, wenn zu den genannten Umständen (hohes Lebensalter, Verwurzelung aufgrund langer Mietdauer) Erkrankungen des Mieters hinzukommen, aufgrund derer im Falle seines Herauslösens aus der Wohnumgebung eine Verschlechterung seines gesundheitlichen Zustands zu erwarten steht. Lässt der gesundheitliche Zustand des Mieters einen Umzug nicht zu oder besteht im Falle eines Wohnungswechsels zumindest die ernsthafte Gefahr einer erheblichen Verschlechterung der gesundheitlichen Situation des (schwer) erkrankten Mieters, kann sogar allein dies einen Härtegrund darstellen (Senatsurteil vom 22. Mai 2019 – VIII ZR 180/18, aaO Rn. 31 mwN).

(2) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist es jedoch weder mit Blick auf den in Art. 25 EUGrdRCh verbrieften Schutz älterer Menschen noch unter Berücksichtigung des in Art. 1 Abs. 1 GG sowie dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs.1 GG) verankerten Schutzes der Menschenwürde geboten, nach der Lehre der „mittelbaren Drittwirkung“ der Grundrechte eine Härte im Sinne von § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB allein aufgrund des hohen Lebensalters eines Mieters zu bejahen.

(a) Art. 25 EUGrdRCh entfaltet schon deshalb keine (mittelbaren) Auswirkungen auf die Auslegung des Härtebegriffs in § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB, weil diese Regelung gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EUGrdRCh ausschließlich bei der – hier zweifelsfrei nicht betroffenen – Durchführung des Rechts der Union gilt und die in der Unionsrechtsordnung gewährleisteten Grundrechte nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung demnach in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben – sei es auch (nur) in Form der „mittelbaren Drittwirkung“ – Anwendung finden (vgl. etwa EuGH, NJW 2020, 35 Rn. 42 f.; NJW 2013, 1415 Rn. 19; BVerfGE 152, 152 Rn. 43; BVerfG, NJW 2013, 1499 Rn. 90 f.; BGH, Urteile vom 27. Juli 2020 – VI ZR 405/18, NJW 2020, 3436 Rn. 25; vom 27. Mai 2020 – VIII ZR 401/18, ZIP 2020, 1967 Rn. 56, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen; vom 26. November 2015 – I ZR 3/14, juris Rn. 30 ff.).

(b) Auch unter dem Blickwinkel der Ausstrahlungswirkung der nach Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürde sowie des Sozialstaatsprinzips ist es nicht angezeigt, das hohe Alter eines Mieters in Verbindung mit einer langen Mietdauer unabhängig von den sich aus einem erzwungenen Wohnungswechsel konkret ergebenden Folgen als Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB anzusehen. Ob eine Verletzung der Menschenwürde zu befürchten steht, lässt sich nämlich ebenfalls erst beurteilen, wenn die Auswirkungen feststehen, die ein Umzug für den betroffenen Mieter aufgrund seiner individuellen Lebenssituation – insbesondere seines gesundheitlichen Zustands – hätte.

(3) Die demnach erforderlichen Feststellungen hat das Berufungsgericht nicht getroffen.

(a) Soweit es – eher beiläufig – eine jahrzehntelange soziale Verwurzelung der Beklagten am Ort der Mietsache angenommen hat, lässt die angefochtene Entscheidung Ausführungen dazu, auf welchen Umständen diese Annahme beruht, vollständig vermissen. Denn eine langjährige Mietdauer (hier zum Zeitpunkt der ersten Eigenbedarfskündigung rund 18 Jahre) lässt für sich genommen noch nicht auf eine tiefe soziale Verwurzelung des Mieters am Ort der Mietsache schließen. Vielmehr hängt deren Entstehung maßgeblich von der individuellen Lebensführung des jeweiligen Mieters ab, namentlich davon, ob er beispielsweise soziale Kontakte in der Nachbarschaft pflegt, Einkäufe für den täglichen Lebensbedarf in der näheren Umgebung erledigt, an kulturellen, sportlichen oder religiösen Veranstaltungen in der Nähe seiner Wohnung teilnimmt und/oder medizinische oder andere Dienstleistungen in seiner Wohnumgebung in Anspruch nimmt. Solche Gegebenheiten hat das Berufungsgericht nicht festgestellt.

Unabhängig davon fehlt es ferner an Feststellungen des Berufungsgerichts zu den konkreten Folgen, die sich aus dem hohen Lebensalter der Beklagten und ihrer etwaigen sozialen Verwurzelung am bisherigen Wohnort im Falle eines erzwungenen Wohnungswechsels für sie ergeben.

(b) Auch dazu, ob die Beklagte daneben – wie vom Amtsgericht auf der Grundlage der hierzu erhobenen Beweise angenommen – an Erkrankungen leidet, die im Falle eines erzwungenen Wohnungswechsels eine Verschlechterung ihres gesundheitlichen Zustands befürchten lassen oder für sich genommen so schwer sind, dass der gesundheitliche Zustand der Beklagten einen Umzug nicht zulässt beziehungsweise im Falle des Herauslösens aus ihrer näheren Umgebung die ernsthafte Gefahr einer erheblichen Verschlechterung ihrer gesundheitlichen Situation besteht, hat das Berufungsgericht keine Feststellungen getroffen. Vielmehr hat es – von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig – ausdrücklich dahinstehen lassen, ob der vom Amtsgericht nach Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens festgestellte gesundheitliche Zustand der Beklagten die Annahme einer Härte rechtfertigt und ob die gegen die erstinstanzliche Beweiserhebung vorgebrachten verfahrensrechtlichen Einwände eine neuerliche Beweisaufnahme erfordern oder der Beweis des von der Klägerin in Abrede gestellten schlechten Gesundheitszustands der Beklagten aufgrund der vorgelegten ärztlichen Atteste prima facie geführt ist.

bb) Überdies hat das Berufungsgericht bei der nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB vorzunehmenden Interessenabwägung einen unzutreffenden rechtlichen Maßstab angelegt und deshalb auch insoweit die für die Beurteilung des Streitfalls notwendigen Feststellungen nicht getroffen.

(1) Bei der Bewertung und Gewichtung der widerstreitenden Interessen beider Mietvertragsparteien im Rahmen der nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB vorzunehmenden Abwägung ist den Wertentscheidungen Rechnung zu tragen, die in den für sie streitenden Grundrechten zum Ausdruck kommen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bezüglich der Anwendung und Auslegung des Kündigungstatbestandes des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB einerseits und der Sozialklausel des § 574 BGB andererseits dieselben verfassungsrechtlichen Maßstäbe gelten (Senatsurteil vom 22. Mai 2019 – VIII ZR 180/18, aaO Rn. 60; vgl. BVerfG, NJW-RR 1999, 1097, 1098; NJW-RR 1993, 1358), so dass auch im Rahmen der Vorschrift des § 574 BGB die vom Vermieter beabsichtigte Lebensplanung grundsätzlich zu respektieren und der Rechtsfindung zugrunde zu legen ist (Senatsurteil vom 22. Mai 2019 – VIII ZR 180/18, aaO; vgl. BVerfGE 68, 361, 373 f.; 79, 292, 304 f.; BVerfG, NJW 1994, 309, 310; NJW 1995, 1480, 1481). Die Abwägung der gegenläufigen Interessen hat sich stets an den konkreten Umständen des zu beurteilenden Einzelfalls auszurichten. Dabei ist es angesichts der Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse unzulässig, bestimmten Belangen des Vermieters und/ oder des Mieters von vornherein – kategorisch – ein größeres Gewicht beizumessen als denen der Gegenseite (vgl. Senatsurteil vom 22. Mai 2019 – VIII ZR 180/18, aaO Rn. 36 f.).

(2) Diesen Anforderungen wird die vom Berufungsgericht vorgenommene Interessenabwägung nicht gerecht.

Mit der Annahme, das hohe Alter des Mieters gebiete gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters in der Regel die Fortsetzung des Mietverhältnisses, hat sich das Berufungsgericht – unzulässigerweise – auf eine (wertende) Kategorisierung der widerstreitenden Interessen zurückgezogen, nämlich dem Bestandsinteresse eines Mieters in hohem Lebensalter – im Wege einer generalisierenden Wertung – den Vorrang gegenüber dem berechtigten Erlangungsinteresse des Vermieters eingeräumt.

Zwar ist das Berufungsgericht im Ansatz noch zutreffend davon ausgegangen, die Lebensplanung der Klägerin dahingehend, dass sie während ihrer Aufenthalte in Berlin künftig nicht mehr wie bislang gemeinsam mit ihrem erwachsenen Sohn in einer Mietwohnung, sondern stattdessen alleine in der in ihrem Eigentum stehenden Wohnung leben möchte, sei zu respektieren. Auch hat es das mit dieser Lebensplanung begründete Erlangungsinteresse der Klägerin der gebotenen einzelfallbezogenen Bewertung unterzogen, indem es die Dringlichkeit des geltend gemachten Eigenbedarfs im Hinblick darauf, dass der Eigennutzungswunsch zum einen nicht auf eine ganzjährige Nutzung und zum anderen auf bloßen Komfortzuwachs sowie die Vermeidung etwaiger wirtschaftlicher Nachteile durch die Anmietung einer weiteren Wohnung gerichtet sei, als eher gering eingeschätzt hat.

Da es aber infolge der aufgezeigten Kategorisierung der Belange eines älteren Mieters weder zu den von der Beklagten neben ihrem Lebensalter geltend gemachten Härtegründen im Sinne von § 574 Abs.1 Satz 1 BGB (soziale Verwurzelung am bisherigen Wohnort, zahlreiche Erkrankungen) noch zu den mit einem Umzug konkret für diese verbundenen Folgen (ausreichende) Feststellungen getroffen hat, hat es sich den Weg zu einer zuverlässigen Gewichtung der etwa zu bejahenden Härte (vgl. Senatsurteil vom 22. Mai 2019 – VIII ZR 180/18, aaO Rn. 46) und damit zu einer den oben genannten Anforderungen genügenden Interessenabwägung versperrt.

III.

Nach alledem kann das Urteil des Berufungsgerichts in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang keinen Bestand haben; es ist insoweit aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist nicht entscheidungsreif und daher im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung – unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats (§ 563 Abs. 2 ZPO) – an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

Für das weitere Verfahren wird vorsorglich darauf hingewiesen, dass regelmäßig die Einholung eines – oder, wie hier, die Heranziehung des vom Amtsgericht bereits eingeholten – Sachverständigengutachtens zu der Art, dem Umfang und den konkreten Auswirkungen auf die Lebensführung des betroffenen Mieters im Allgemeinen und im Falle des Verlusts der vertrauten Umgebung erforderlich ist, wenn der Mieter – wie hier – unter Vorlage von Attesten der behandelnden Fachärzte geltend macht, ihm sei ein Umzug wegen einer schweren Erkrankung nicht zuzumuten, und der Vermieter dieses Vorbringen bestreitet (Senatsurteile vom 15. März 2017 – VIII ZR 270/15, NJW 2017, 1474 Rn. 29; vom 22. Mai 2019 – VIII ZR 180/18, aaO Rn. 44). Die vom Mieter als Beleg für sein Vorbringen eingereichten ärztlichen Atteste reichen deshalb in der Regel – anders als vom Berufungsgericht unter Bezugnahme auf die Grundsätze des Anscheinsbeweises in Betracht gezogen – nicht aus, um den Tatrichter in einem solchen Fall in die Lage zu versetzen, das Vorliegen eines Härtegrunds im Sinne von § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB zu beurteilen und diesen gegebenenfalls im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung sachgerecht zu gewichten (vgl. Senatsurteile vom 15. März 2017 – VIII ZR 270/15, aaO; vom 22. Mai 2019 – VIII ZR 180/18, aaO).

Weiter wird für den Fall, dass es nach den noch zu treffenden Feststellungen des Berufungsgerichts darauf ankommen sollte, ob der Härtegrund des zu zumutbaren Bedingungen nicht zu beschaffenden Ersatzwohnraums (§ 574 Abs. 2 BGB) gegeben ist, vorsorglich darauf hingewiesen, dass der – durch eine entsprechend angespannte Wohnlage veranlasste – Erlass der Mietenbegrenzungsverordnung des Landes Berlin vom 28. April 2015 – anders als vom Berufungsgericht etwa erwogen – allenfalls ein gewisses Indiz für das Vorliegen eines Härtegrunds nach § 574 Abs. 2 BGB darstellt, das lediglich in Verbindung mit substantiiertem (unstreitigem oder nachgewiesenem) Parteivortrag zu konkret vom Mieter ergriffenen Maßnahmen zu der tatrichterlichen Überzeugung führen kann, angemessener Wohnraum zu zumutbaren Bedingungen sei für den Mieter nicht zu erlangen (vgl. Senatsurteil vom 22. Mai 2019 – VIII ZR 180/18, aaO Rn. 51 f.).

 

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