LG Berlin – Az.: 64 S 160/19 – Beschluss vom 17.02.2020
Den Beklagten wird für den Berufungsrechtszug unter Beiordnung von Rechtsanwalt … Prozesskostenhilfe gewährt. Angesichts der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Beklagten werden keine Zahlungen festgesetzt.
Die Kammer beabsichtigt, die Berufung der Klägerin gegen das am 8. Juli 2019 verkündete Urteil des Amtsgerichts Charlottenburg – 232 C 37/18 – durch einstimmigen Beschluss nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückzuweisen.
Gründe
Der Hinweis beruht auf § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO. Die Kammer ist davon überzeugt, dass die zulässige Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil nicht erfordern und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Amtsgericht darauf erkannt, dass das gemäß § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB wirksam wegen Eigenbedarfs gekündigte Mietverhältnis nach §§ 574, 574a Abs. 2 BGB bis zum 30. Juni 2021 fortzusetzen ist, um eine den Beklagten sonst durch die Räumung drohende unzumutbare Härte auszuschließen. Die Kammer nimmt auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils Bezug und macht sich diese zu eigen. Die Angriffe der Berufung bleiben ohne Erfolg und geben lediglich Anlass zu nachfolgenden Hinweisen.
a)
Die Beklagten müssen sich nicht darauf verweisen lassen, entgegen ihrem Willen ihr bisheriges Leben und ihre Lebensform aufzugeben und in eine betreute Einrichtung umzuziehen. Eine Härte liegt entgegen der Ansicht der Klägerin nicht erst dann vor, wenn der Mieter überhaupt keine Ersatzwohnräume finden kann; anders als eine Räumungsfrist nach § 721 ZPO soll die Norm des § 574 Abs. 2 BGB gerade nicht bloß einer Obdachlosigkeit vorbeugen, sondern dem Mieter sehr wohl ermöglichen, „nach seinen persönlichen Wünschen und Vorlieben eine Wahlfreiheit zwischen verschiedenen möglichen Wohnformen“ auszuüben. So „kann der Mieter verlangen, dass die Ersatzwohnung hinsichtlich ihrer Art, Größe, Ausstattung, Beschaffenheit und Lage seinen bisherigen Lebensumständen entspricht. Grundsätzlich muss der Mieter keine wesentliche Verschlechterung seiner bisherigen Wohnverhältnisse hinnehmen; auf eine wesentliche Verbesserung hat er idR keinen Anspruch. Ein Mieter im hohen Lebensalter muss sich nicht auf die Möglichkeit der Unterbringung in einem Altersheim verweisen lassen“ (vgl. Schmidt-Futterer/Blank, Mietrecht, 14. Aufl. 2019, § 574 Rn. 33 m. w. N.). Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Beklagten geschäftsunfähig sind, denn sie können jedenfalls einen natürlichen Willen bilden und Vorlieben äußern; sie sind nicht entmündigt und können selbst entscheiden, ob sie lieber in einer betreuten Einrichtung, oder gemeinsam in einer Mietwohnung leben möchten. Der für Wohnungsangelegenheiten bestellte Betreuer darf sich über einen solchen Wunsch nicht nach eigenem Gutdünken hinwegsetzen, sondern wird prüfen müssen, ob er mit den wohlverstandenen Interessen der Betreuten vereinbar ist und wie er ihn umsetzen kann.
b)
Die von dem Amtsgericht für die Suche nach Ersatzwohnraum im Bereich des bisherigen Umfelds und eine den besonderen Bedürfnissen der Beklagten entsprechende Gestaltung und Begleitung ihres Umzugs gemäß § 574a Abs. 2 Satz 1 BGB bestimmte Dauer der Mietvertragsfortsetzung ist nicht zu beanstanden. Auch die Kammer ist der Auffassung, dass angesichts der aktuellen Berliner Wohnmarktsituation ein Zeitraum von bis zu zwei Jahren für die Auffindung einer zumutbaren Ersatzwohnung und einen Umzug der Beklagten erforderlich sein kann, aber auch ausreichen sollte.
aa)
Die Ansicht der Klägerin, der Zeitraum zwischen Zugang der Kündigung im November 2016 und dokumentierten Beginn der Ersatzwohnraumsuche im August 2018 müsse von einer für die – unstreitig noch erforderliche – Ersatzwohnraumsuche angemessenen Frist abgesetzt werden, begegnet schon grundsätzlichen Bedenken. Die befristete Fortführung des Mietverhältnisses dient vorliegend nicht lediglich der Vermeidung einer Härte im Sinne des § 574 Abs. 2 BGB, soll also nicht bloß verhindern, dass die Beklagten auf wesentlich hinter ihren bisherigen Lebensumständen zurückbleibenden Wohnraum ausweichen müssen. Vielmehr geht es darum, die Beklagten vor unzumutbaren Gesundheitsbeeinträchtigungen zu bewahren; denn das Amtsgericht ist davon ausgegangen und die Klägerin gesteht ausdrücklich zu, dass die Beklagten aus gesundheitlichen Gründen einer Ersatzwohnung in räumlicher Nähe zu ihrem aktuellen Wohnsitz bedürfen.
bb)
Dies mag jedoch dahinstehen, denn die Beklagten waren vorliegend ohnehin nicht gehalten, unmittelbar nach Zugang der Kündigung mit der Suche nach geeigneten Ersatzwohnräumen zu beginnen. Zwar trifft das Risiko für einen Rechtsirrtum über Umfang und Fälligkeit eigener schuldrechtlicher Pflichten grundsätzlich allein den Schuldner und wird deshalb vertreten, dass ein Mieter sofort nach Zugang einer – sich möglicherweise erst ex post im Ergebnis eines langwierigen Rechtsstreits als wirksam erweisenden – Kündigungserklärung mit der Suche nach geeigneten Ersatzwohnräumen zu beginnen habe, um sich auf den Härtegrund berufen zu können (vgl. Schmidt-Futterer/Blank, Mietrecht, 14. Aufl. 2019, § 574 Rn. 31, Fn. 31 m. w. N.). Das kann aber jedenfalls dann nicht gelten, wenn der Mieter sich nicht nur auf einen Mangel an verfügbaren Ersatzwohnraum beruft, sondern „aus anderen Gründen auf den Erfolg seines Widerspruchs vertrauen darf“ (vgl. Emmerich/Sonnenschein, Miete, 11. Aufl. 2014, § 574 Rn. 30 m. w. N.; ebenso Schmidt-Futterer/Blank, a. a. O., § 574 Rn. 31 a. E.). Dabei kann – soweit es um die letztlich auf § 242 BGB beruhende Versagung einer Berufung auf den Härtegrund als missbräuchlich geht – nicht auf den strengen Maßstab zurückgegriffen werden, der im Allgemeinen für das Verschulden des Schuldners an einem Rechtsirrtum heranzuziehen ist. Denn einem Mieter, der sich guten Glaubens und mit schlüssiger Begründung gegen einen Räumungsanspruch verteidigt, ist es schlichtweg unzumutbar, sich noch vor einer Klärung seiner wesentlichen Einwände schon um Ersatzwohnraum zu bemühen, den er schließlich im Erfolgsfall sofort anmieten müsste. Vielmehr wird er eine Ersatzwohnraumsuche jedenfalls so lange zurückstellen dürfen, als er an den Erfolgsaussichten seiner Rechtsverteidigung nicht ernsthaft zweifeln muss.
Der Betreuer der Beklagten, auf dessen etwaiges Verschulden es allenfalls ankommen könnte, hatte den Widerspruch nicht nur auf einen Mangel an verfügbaren Ersatzwohnraum gestützt, sondern vornehmlich geltend gemacht, dass den Beklagten ein erzwungener Wohnungswechsel aus gesundheitlichen Gründen nicht zuzumuten sei. Dieser Härtegrund war nicht von der Hand zu weisen, sodass der Betreuer auf den Erfolg des Widerspruchs zunächst vertrauen durfte; denn bei einer Abwägung zwischen dem Interesse des Vermieters auf freie Lebensgestaltung und demjenigen des Mieters auf körperliche Unversehrtheit ist letzterem stets der Vorzug einzuräumen (vgl. LG Hamburg – 16 S 81/88 -, Urt. v. 13.12.1988; LG Oldenburg – 16 S 1020/90 -, Urt. v. 07.02.1991, WuM 1991, 346; beide zitiert nach juris). Die gerichtlich bestellte Sachverständige hat in ihrem Gutachten vom 17. September 2018 zunächst uneingeschränkt bestätigt, dass ein Umzug für die Beklagten mit Gesundheitsgefahren verbunden wäre. Diese Feststellung hat die Sachverständige erst auf Rückfrage des Gerichts mit der im Februar 2019 vorgelegten ergänzenden Stellungnahme relativiert und aufgezeigt, auf welche Weise ein Umzug der Beklagten gestaltet werden kann, um nachteilige Gesundheitsfolgen abzuwenden. Den Beklagten kann die Berufung auf den von der Sachverständigen festgestellten und von der Klägerin eingeräumten Härtegrund folglich nicht mit der Begründung versagt werden, sie hätten sich schon im Zeitraum November 2016 bis August 2018 darum kümmern müssen, eine Ausweichwohnung zu finden.
cc)
Die berechtigten und nicht nur angesichts der schon weit über drei Jahre zurückliegenden Kündigung auch dringlichen Interessen der Klägerin sowie der einzugswilligen Familie müssen angesichts der den Beklagten drohenden Gesundheitsgefahren bis zum Ablauf der angeordneten Befristung weiterhin zurückstehen. Soweit die Klägerin meint, für die befristete Fortsetzung des Mietverhältnisses nach § 574a Abs. 2 BGB habe keine längere als die in § 721 ZPO vorgesehene Jahresfrist bestimmt werden dürfen, ist nochmals darauf hinzuweisen, dass die beiden Normen ganz unterschiedlichen Zwecken dienen.
Fehl geht auch die Rüge der Klägerin, sie könne sich selbst nach Ablauf der angeordneten Fortdauer des Mietverhältnisses nicht sicher sein, dass die Wohnung tatsächlich geräumt werde. Die ungeachtet der angeordneten Befristung verbleibende Unsicherheit ist der Klägerin zum Schutze der Gesundheit der Beklagten zuzumuten. Sie ergibt sich auch nicht etwa aus einem seitens des Amtsgerichts angeordneten Vorbehalt, sondern allein aus dem Gesetz. Schon das Amtsgericht hat deutlich darauf hingewiesen, dass § 574c BGB eine nochmalige Verlängerung des Mietverhältnisses nur dann vorsieht, wenn in den der jetzigen Entscheidung zu Grunde liegenden Umständen eine wesentliche Änderung eintritt. Sollte der Betreuer, was die Klägerin offenbar befürchtet, bis zum Ablauf der Frist tatsächlich noch keine geeignete Ersatzunterkunft für die Beklagten gefunden haben, wird an die Prüfung seiner Bemühungen daher ein strenger Maßstab anzulegen sein.
c)
Schließlich begegnet auch die Kostenentscheidung des Amtsgerichts keinen Bedenken. Die Kosten könnten gemäß § 93b Abs. 2 ZPO nur dann ganz oder teilweise den Beklagten auferlegt werden, wenn ihr Widerspruch aus Gründen Erfolg gehabt hätte, die sie gegenüber der Klägerin nicht offen legten. Davon kann aber keine Rede sein, denn ihr Widerspruch war gerade darauf gestützt, dass ihnen die Räumung der Wohnung aus gesundheitlichen Gründen nicht zuzumuten sei.
Die Kammer regt deshalb an, die Berufung zurückzunehmen und weist vorsorglich darauf hin, dass sich die Gerichtsgebühren für das Berufungsverfahren in diesem Falle halbieren würden (vgl. Nr. 1220, 1222 Kostenverzeichnis zum Gerichtskostengesetz).
Die Parteien erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen.