LG Hanau – Az.: 2 S 138/20 – Urteil vom 22.07.2021
Den Beklagten wird Wiedereinsetzung hinsichtlich der Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist gewährt.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Hanau vom 23.10.2020, Az. 32 C 227/19 (12), wie folgt abgeändert und neu gefasst:
Die Klage wird abgewiesen.
Das Mietverhältnis zwischen den Parteien wird auf unbestimmte Zeit fortgesetzt.
Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz hat der Kläger zu tragen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden den Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 4.200,- EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Kläger verlangt Räumung der von den Beklagten innegehaltenen Wohnung wegen behaupteten Eigenbedarfs.
Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Teilurteil wird zunächst vollumfänglich Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
Das Amtsgericht hat der Räumungsklage mit Urteil vom 23.10.2020, den Beklagten zugestellt am 23.11.2020, stattgegeben.
Es hat nach Anhörung der Parteien und Vernehmung von Zeugen den vom Kläger behaupteten Eigenbedarf gemäß § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB für gegeben erachtet. Ferner hat das Amtsgericht ausgeführt, dass über eine Fortsetzung des Mietverhältnisses gemäß § 574 BGB im Hinblick auf den Gesundheitszustand des Beklagten zu 1) nicht zu entscheiden sei, da die Beklagten nicht vorgetragen hätten, dass sie binnen der Frist des § 574b Abs. 2 S. 1 BGB schriftlich Widerspruch gegen die Kündigung erklärt haben, obwohl in dem Kündigungsschreiben auf das Widerspruchsrecht und die Frist hingewiesen worden sei.
Mit Schriftsatz vom 22.12.2020 haben die Beklagten einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die zweite Instanz gestellt, welche mit Beschluss der Kammer vom 08.03.2021, den Beklagten zugestellt am 17.03.2021, bewilligt worden ist.
Anschließend haben die Beklagten mit Schriftsatz vom 24.03.2021 Berufung eingelegt, die Berufung begründet und gleichzeitig Wiedereinsetzung hinsichtlich der Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist beantragt.
Mit ihrer Berufung greifen die Kläger das Urteil des Amtsgerichts vollumfänglich an, wobei sie maßgeblich darauf abstellen, dass das Amtsgericht es versäumt habe, inhaltlich über eine Fortsetzung des Mietverhältnisses gemäß § 574 BGB zu entscheiden. Hierzu tragen sie unbestritten vor, dem Kläger sehr wohl bereits mit anwaltlichem Schreiben vom 28.02.2019 (Bl. 109 d. A.) mitgeteilt zu haben, dass sie der Kündigung unter Berufung auf das Widerspruchsrecht nach § 574 BGB widersprechen und wegen Härtegründen die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen würden.
Im Fall eines entsprechenden Hinweises des Amtsgerichts, wäre das Schreiben der Beklagten vom 28.202.2019 bereits im ersten Rechtszug vorgelegt worden.
Von der weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes wird nach § 540 Abs. 2 ZPO in Verbindung mit § 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.
II.
1.
Den Beklagten war Wiedereinsetzung hinsichtlich der Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist zu gewähren. Der entsprechende Antrag ist rechtzeitig innerhalb von zwei Wochen nach Behebung des Hindernisses (hier Zugang des Prozesskostenhilfe bewilligenden Beschlusses) gestellt worden. Die Wiedereinsetzung ist auch in der Sache begründet, da die Beklagten rechtzeitig innerhalb der Berufungsfrist einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren gestellt hatten.
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung der Beklagten hat in der Sache Erfolg.
2.
Der Kläger hat gegen die Beklagten keinen Anspruch auf Räumung und Herausgabe der streitgegenständlichen Wohnung gemäß § BGB § 546 Abs.1 BGB. Zwar ist dem Amtsgericht darin zu folgen, dass der Kläger das Mietverhältnis mit Schreiben vom 22.11.2018 wirksam gekündigt hat. Eigenbedarf im Sinne des § BGB § 573 Abs.2, Ziff. 2 BGB liegt vor. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.
Die Beklagten waren jedoch als Mieter berechtigt, gemäß § 574 Abs.1 Satz 1 BGB der Kündigung zu widersprechen. Sie können die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, weil die Beendigung des Mietverhältnisses jedenfalls für den Beklagten zu 1) eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist.
Entgegen der Annahme des Amtsgerichts ist davon auszugehen, dass die Beklagten ihren Widerspruch gegen die streitgegenständliche Kündigung gemäß § 574b BGB form- und fristgemäß erklärt haben. Es steht nämlich im zweiten Rechtszug außer Streit, dass die Beklagten dem Kläger sehr wohl bereits mit anwaltlichem Schreiben vom 28.02.2019 (Bl. 109 d. A.) mitgeteilt haben, dass sie der Kündigung unter Berufung auf das Widerspruchsrecht nach § 574 BGB widersprechen und wegen Härtegründen die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob die Beklagten mit ihrer Rüge einer Hinweispflichtverletzung durchdringen können oder nicht. Das unstreitige Vorbringen zum Inhalt und Zugang des anwaltlichen Schreibens vom 28.02.2019 ist im Berufungsverfahren ohnehin zu
berücksichtigen. Mit dem vorgenannten Schreiben haben die Beklagten im Übrigen auch ohne weiteres die Frist des § 574b Abs. 2 S. 1 BGB eingehalten, da im Kündigungsschreiben von einer Beendigung des Mietverhältnisses zum 31.08.2019 ausgegangen wird.
Die Kammer geht nach Anhörung des Klägers und der Beklagten zu 2) sowie nach Erörterung des vorgelegten ärztlichen Attestes vom 21.06.2021 (Bl. 159 d. A.) und des vorgelegten Gutachtens des MDK zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit des Beklagten zu 1) vom 16.02.2021 (Bl. 160 ff. d. A.) davon aus, dass eine derzeitige Beendigung des Mietverhältnisses für die Beklagten mit ganz besonders großen Härten verbunden wäre. Der Beklagte zu 1) ist ausweislich des Attestes und des Gutachtens nicht nur außerordentlich schwer erkrankt, wobei neben den Folgen eines Schlaganfalles, u.a. eine beginnende Demenz und eine Epilepsie zu nennen sind, sondern infolge seiner Erkrankungen zudem in einem ganz erheblichen Umfang pflegebedürftig. Die Einschränkungen gehen soweit, dass im Gutachten des MDK sogar der Pflegegrad 4 angenommen wird. Zu selbständigen Handlungen ist der Beklagte zu 1) weitgehend nicht mehr fähig. Aufgrund dieser massiven Erkrankungen und Einschränkungen des Beklagten zu 1) kann nach Auffassung der Kammer kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass ein erzwungener Auszug aus der streitgegenständlichen Wohnung mit zusätzlichen gesundheitlichen Risiken für den Beklagten zu 1) verbunden wäre. Hinzu kommt, dass die Beklagte zu 2) im Termin nachvollziehbar erläutern konnte, dass wegen der Erkrankungen und der Pflegebedürftigkeit des Beklagten zu 1) besondere Schwierigkeiten bei der Beschaffung von geeignetem Ersatzwohnraum bestehen. Vor diesem Hintergrund besteht die dringende Vermutung, dass sich im Fall eines Auszuges die Notwendigkeit der Unterbringung des Beklagten zu 1) in einem Pflegeheim kaum verhindern lassen dürfte. Auf eine Unterbringung in einem Alten- oder Pflegeheim muss sich der Mieter aber nicht verweisen lassen (vgl. OLG Karlsruhe, Rechtsentscheid vom 03.07.1970 – 1 REMiet 1/70 – NJW 1970, 1746).
Dem steht im Streitfall nicht entgegen, dass auch die Wohnsituation in der streitgegenständlichen Wohnung mit Blick auf die Lage im 2. Obergeschoss und einen fehlenden Aufzug mit Nachteilen für den Beklagten zu 1) verbunden ist. Diesem kann ein zeitweises Verlassen der Wohnung – jenseits von organisierten Arztbesuchen – aufgrund der eingeschränkten Mobilität nur sehr selten ermöglicht werden. Anderseits gilt es zu berücksichtigen, dass sich der Beklagte zu 2) in der ihm bekannten Wohnung wenigstens noch orientieren – und mit Hilfe anderer – auch kurze Wege in der Wohnung zurücklegen kann. Darüber hinaus konnte die Beklagte zu 2) glaubhaft schildern, dass sich sowohl die nötigen Einkaufsgelegenheiten, als auch alle wichtigen Ärzte in unmittelbarer Nähe der streitgegenständlichen Wohnung befinden, was ihr die Versorgung ihres Ehemannes erheblich erleichtert. Die Beklagte zu 2) vermittelte der Kammer überdies insgesamt den Eindruck, dass sie die Betreuung des Beklagten zu 1) mithilfe der Ärzte und des Pflegedienstes zumindest derzeit durchaus noch im Griff hat. Vor diesem Hintergrund kann der Wunsch der Beklagten, in der bisherigen Wohnung zu verbleiben, zumindest derzeit auch nicht als objektiv unvernünftig gewertet werden (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 27.01.1994 – 1 BvR 2067/93 – juris).
Dabei verkennt die Kammer nicht, dass auch der Beklagte beachtliche Interessen für seinen Eigenbedarf vorweisen kann. Die von ihm angeführte Nähe zu seinen Kindern und sein Wunsch, diese bei der Betreuung der Enkelkinder stärker zu unterstützen, ist nicht nur legitim, sondern ohne weiteres sehr gut nachvollziehbar, weshalb am Vorliegen des Kündigungsgrundes nach den überzeugenden Feststellungen des Amtsgerichts auch kein Zweifel bestehen kann. Die besonderen Interessen der Beklagten an der Aufrechterhaltung der derzeitigen Wohnsituation rechtfertigen es indes, gleichwohl derzeit von einem begründeten Widerspruch auszugehen einen Anspruch der Beklagten auf Fortsetzung des Mietverhältnisses anzunehmen.
3.
Da derzeit ungewiss ist, wann voraussichtlich die Gründe wegfallen, auf Grund derer die Beendigung des Mietverhältnisses eine Härte bedeutet, war zugleich zu bestimmen, dass das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit fortgesetzt wird.
4
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 2 ZPO.Trotz Obsiegens waren den Beklagten die Kosten des Rechtsmittelverfahrens aufzuerlegen, da sie aufgrund eines neuen Vorbringens obsiegt haben, das sie im ersten Rechtszug geltend zu machen imstande waren. Ungeachtet der Frage einer Verletzung von Hinweispflichten durch das Gericht, wäre bei einer gewissenhaften Prozessführung zu erwarten gewesen, dass die anwaltlich vertretenen Beklagten zu den Voraussetzungen eines Widerspruchs gegen die Kündigung des Vermieters bereits im ersten Rechtszug vollständig vortragen.
Das Urteil ist nach §§ 708 Nr.10, 711, 713 ZPO vorläufig vollstreckbar.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO sind nicht erfüllt. Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Zudem erfordert weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 41 GKG.