Umlaufbeschluss der Eigentümergemeinschaft für nichtig erklärt
Ein Umlaufbeschluss der Eigentümergemeinschaft, der eine Wohnungseigentümerin zur Beseitigung einer mutmaßlich widerrechtlich angebrachten Überdachung und Seitenteilen an ihrem Balkon verpflichtete, wurde für nichtig erklärt. Die Klägerin argumentierte, dass der Beschluss entgegen den Vorgaben von § 23 Abs. 3 WEG keine eindeutige Entscheidung darüber traf, welche Alternative des Umlaufbeschlusses genutzt werden sollte. Der Beschluss enthielt keinen Hinweis darauf, dass für den beabsichtigten Umlaufbeschluss das Mehrheitsprinzip gelten sollte. Eine solche Regelung ist aber notwendig, wenn für einen einzelnen Gegenstand die Mehrheit der abgegebenen Stimmen genügen soll. Der Verwalter hatte in der Sitzung am 15.07.2022 zwar darauf hingewiesen, dass für einen Beschluss im Umlaufverfahren die Mehrheit der Stimmen ausreiche, dieser Hinweis wurde aber von der Klägerin bestritten. Die Klage wurde daher für begründet erklärt.
AG Stuttgart – Az.: 59 C 616/22 WEG – Urteil vom 05.08.2022
1. Es wird festgestellt, dass der Umlaufbeschluss der Wohnungseigentümergemeinschaft H.weg … E-G in … S., verkündet am 25.01.2022, nichtig ist.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung der Klägerin gegen Sicherheitsleistung von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn diese nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Streitwert: 7.500,00 EUR
Tatbestand
Die Klägerin ist Miteigentümerin der Wohnungseigentumseinheit Nr. … der … in S.. Sie errichtete im Jahr 2021 einen Balkon, der auf einem entsprechenden Beschluss der Wohnungseigentümergemeinschaft aus dem Jahr 2013 beruht. Allerdings brachte die Klägerin über dem Balkon eine Überdachung und auf der rechten Seite einen Windschutz an. Hierzu hat die Eigentümergemeinschaft am 23.11.2021 unter TOP 7 Nr. 1 folgendes beschlossen (Bl. 17):
„Balkonanbau … Nicht vom Beschluss gedeckte Anbringung eines Daches und Seitenwände.
Der Anwalt von … hat sich am heutigen Tag mit dem Anliegen an den Verwalter gewandt: nach altem und neuem Recht leitet sich der Anspruch auf Beseitigung einer ungenehmigten baulichen Veränderung vom § 1004 (1) BGB ab. Anspruchsinhaber war und ist jeder einzelne Wohnungseigentümer, der diese Beseitigung eigens und notfalls per Klage durchsetzen konnte.
Nach neuem WEG-Recht übt jedoch nunmehr gem. § 9a (2) WEG die Gemeinschaft die Rechte der Wohnungseigentümer aus. Die Durchsetzung dieser Rechte kann vom Wohnungseigentümer gem. § 18 (2) Nr. 2 WEG von der Gemeinschaft verlangt werden. Hierzu wäre ein Beschluss zu fassen, ob die Gemeinschaft von … die Beseitigung der mutmaßlich widerrechtlich angebrachten Balkonteile (Überdachung, Seitenteile) verlangt und dies notfalls unter Einlegung von Rechtsmitteln durchsetzt.
Da dieser Punkt nicht auf der Tagesordnung steht, wäre ein derartiger Beschluss anfechtbar. Um aber nicht erneut eine Eigentümerversammlung nur mit diesem einen Punkt einberufen zu müssen, was in der Pandemie schlicht unzumutbar wäre, schlägt der Verwalter vor, diese Beschlussvorlage per Umlaufbeschluss gem. § 23 Abs. 3 WEG zur Abstimmung zu stellen. Die Abstimmung ergibt folgendes Ergebnis:
- Ja-Stimmen: 9
- Nein-Stimmen: 0
- Enthaltungen: 1
Die Beschlussvorlage wird mit Stimmenmehrheit angenommen und per Umlaufbeschluss gem. § 23 (3) WEG zur Abstimmung gestellt, ob die Gemeinschaft von … die Beseitigung der mutmaßlich widerrechtlich angebrachten Balkonteile (Überdachung, Seitenteile) verlangt und dies notfalls unter Einlegung von Rechtsmitteln durchsetzt.“
Daraufhin wurde ein Beschluss im Umlaufverfahren gefasst. Der Verwalter teilte den Wohnungseigentümern mit Schreiben vom 25.01.2022 (Bl. 4) folgendes mit:
„Beschlussverkündung am 22.01.2022 der Beschlussvorlage vom 05.01.2022:
Die … verlangt von … Eigentümerin der Wohnung Nr. … im … 1. OG links die Beseitigung der im April bis Mai 2021 mutmaßlich widerrechtlich angebrachten Balkonüberdachung und Balkonseitenteile und ermächtigt den Verwalter H. G., die Beseitigung unter Einlegung von Rechtsmittel durchzusetzen, sofern nicht nach angemessener Frist (14 Tage nach Beschlussverkündung) eine Erklärung zur freiwilligen Beseitigung erfolgt.
- Ja-Stimmen: 4
- Nein-Stimmen: 0
- Enthaltungen: 3
Vorstehende Beschlussvorlage ist somit mit Stimmenmehrheit gem. § 23 (3) Satz 2 WEG beschlossen.“
Die Klägerin trägt vor, dass gem. § 23 Abs. 3 Satz 1 WEG ein Beschluss auch ohne Versammlung dann gültig sei, wenn alle Wohnungseigentümer ihre Zustimmung zu diesem Beschluss in Textform erklärten. Gemäß § 23 Abs. 3 Satz 2 WEG könnten die Wohnungseigentümer beschließen, dass für einen einzelnen Gegenstand die Mehrheit der abgegebenen Stimmen genüge. In der Eigentümerversammlung vom 23.11.2021 sei durch die Wohnungseigentümer unter TOP 7 Nr. 1 nicht beschlossen worden, welche Variante des § 23 Abs. 3 WEG denn nun für den von der Verwaltung zu initiierenden Umlaufbeschluss Anwendung finden sollte. Durchgeführt worden sei ein mehrheitliches Umlaufbeschlussverfahren gemäß § 23 Abs. 3 Satz 2 WEG, welches jedoch zuvor nicht beschlossen worden sei, denn im Beschlusstext fehle der eindeutige Hinweis darauf, dass „ein mehrheitliches Umlaufbeschlussverfahren“ durchgeführt werden solle. Der Umlaufbeschluss sei deshalb nichtig.
Unabhängig hiervon entspreche der Beschluss auch inhaltlich nicht ordnungsgemäßer Verwaltung, da er weder die Kosten des „Rechtsmittels“ für die Beschlussumsetzung, noch die Finanzierung dieser anfallenden Kosten regele.
Die Klägerin beantragt:
1. Der Umlaufbeschluss der … in … S., verkündet am 25.01.2022, wird für nichtig erklärt.
hilfsweise wird weiter beantragt:
2. Der Umlaufbeschluss der … in … S., verkündet am 25.01.2022 wird für ungültig erklärt.
Die Beklagte beantragt: Die Klage wird abgewiesen.
Die Beklagte trägt vor, dass sich der Beschluss an die Vorgaben der Ermöglichung der Beschlussfassung im Umlaufverfahren in TOP 7 der Eigentümerversammlung vom 23.11.2021 halte. Dort sei ausdrücklich die Möglichkeit der Beschlussfassung im Umlaufverfahren gemäß § 23 Abs. 3 WEG zur Abstimmung gestellt und mehrheitlich angenommen worden. Richtig sei, dass § 23 Abs. 3 WEG zwei Alternativen des Umlaufbeschlusses nenne: Einerseits der Umlaufbeschluss ohne entsprechende Vorbereitung, für den Allstimmigkeit in Textform erforderlich sei, und andererseits die neue Alternative der Beschlussfassung nach vorheriger Beschlussfassung zu einem einzelnen Gegenstand, dass im Umlaufverfahren beschlossen werden solle, wofür die Mehrheit genüge.
In der Beschlussfassung vom 23.11.2021 sei daher mit § 23 Abs. 3 WEG ausdrücklich auch die neue, zweite Variante angesprochen worden. Sofern sich die Klägerseite darauf zurückziehe, in dem Beschluss vom 23.11.2021 sei nicht genannt, dass der Umlaufbeschluss mehrheitlich gefasst werden könne, ergebe sich dies jedoch zweifelsfrei aus der Beschlussfassung der Beklagten. Dort sei nämlich ebenfalls aufgenommen worden, dass zur Vermeidung einer Eigentümerversammlung die Beschlussfassung über den genannten Gegenstand (vermeintlich unberechtigte Anbauten) per Umlaufbeschluss erfolgen könne. In der genannten, ansonsten erforderlichen eigenen Versammlung zu diesem Thema wäre ebenfalls die mehrheitliche Beschlussfassung ausreichend. Aus der ausdrücklichen Aufnahme, zur Vermeidung einer solchen zusätzlichen Versammlung werde im Umlaufverfahren beschlossen, ergebe sich zwingend, dass für das Umlaufverfahren ebenfalls das Quorum des Mehrheitsbeschlusses gelten solle. Denn andernfalls wäre die Beschlussfassung am 23.11.2021 überhaupt nicht erforderlich gewesen. Eindeutig erkennbarer, einziger Sinn und Zweck der Beschlussfassung vom 23.11.2021 sei gewesen, die neue Möglichkeit des Umlaufverfahrens für einen einzelnen Gegenstand zu nutzen und im Umlaufverfahren per Mehrheitsbeschluss zu entscheiden, weswegen genau diesbezüglich Beschluss in der Eigentümerversammlung mit den anwesenden Miteigentümern gefasst worden sei.
Eine darüber hinausgehende Regelung über die Kosten eines eventuellen Rechtsmittels sei schon deswegen nicht erforderlich gewesen, weil nach dem neuen Recht der Verwalter zur Beauftragung von Rechtsanwälten für die Gemeinschaft ebenfalls ermächtigt sei, die Kosten zudem die diskutierten finanziellen Grenzen des Finanzvolumens bzw. des Wirtschaftsplans der WEG nicht erreichten und auch daher von der Kompetenz des Verwalters gedeckt seien. Im Übrigen seien Prozesskosten bei Genehmigung der Einlegung von Rechtsmitteln immanent und schon deshalb von der Genehmigung umfasst.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet. Der Umlaufbeschluss der … in S. ist nichtig.
1. Gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 WEG ist ein Beschluss, der ohne Versammlung gefasst wurde, gültig, wenn alle Wohnungseigentümer ihre Zustimmung zu diesem Beschluss in Textform erklären. Dieses Einstimmigkeitserfordernis ist von wesentlicher Bedeutung, da ein solcher Beschluss ohne die in einer Eigentümerversammlung mögliche Aussprache gefasst werden kann und die in einer solchen Aussprache mögliche Einflussnahme auf die mehrheitliche Entscheidungsfindung elementarer Bestandteil der mitgliedschaftlichen Rechte eines Wohnungseigentümers darstellt (vgl. Bartholome in Hogenschurz, 3. Aufl. § 23 Rdnr. 102). Wollen die Wohnungseigentümer im Gegensatz dazu gemäß § 23 Abs. 3 Satz 2 WEG beschließen, dass für einen einzelnen Gegenstand die Mehrheit der abgegebenen Stimmen genügen soll, muss dies in dem entsprechenden Beschluss hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht werden (vgl. Wicke in Grüneberg, BGB, 81. Aufl., § 23 WEG Rdnr. 6a).
Dies war vorliegend nicht der Fall. Der in der Versammlung vom 23.11.2021 zu TOP 7 gefasste Beschluss enthält keinen Hinweis darauf, dass für den beabsichtigten Umlaufbeschluss gemäß § 23 Abs. 3 Satz 2 WEG das Mehrheitsprinzip gelten sollte. Die Behauptung der Beklagten, dass in der Beschlussfassung vom 23.11.2021 mit § 23 Abs. 3 WEG „ausdrücklich“ auch „die neue, 2. Variante“ angesprochen worden sei, ist offensichtlich unrichtig. Ob die weitere Behauptung zutrifft, dass sich dies zweifelsfrei aus dem Ziel der Vermeidung einer eigenen Eigentümerversammlung sowie daraus ergebe, dass ansonsten keine Beschlussfassung hätte erfolgen müssen, kann dahingestellt bleiben. Wegen der Wirkung gegenüber Sondernachfolgern sind Beschlüsse aus sich heraus – objektiv und normativ – auszulegen. Abzustellen ist auf den zur Abstimmung gestellten Beschlusswortlaut. Umstände außerhalb des protokollierten Beschlusses dürfen nur herangezogen werden, wenn sie nach den besonderen Verhältnissen des Einzelfalles für jedermann ohne weiteres erkennbar sind (vgl. Vandenhouten in Niedenführ/Schmidt-Räntsch/Vandenhouten, WEG, 13. Auflage, § 23 Rdnr. 66 m.w.N.). Dies trifft auf die von der Beklagten genannten Umstände nicht zu. Denn aus dem Verlauf der Versammlung war nicht für jedermann zweifelsfrei und ohne weiteres erkennbar, dass sich die Versammlung für den Umlaufbeschluss auf das Mehrheitsprinzip geeignet hat.
2. Auch der Hinweis des Verwalters in der Sitzung am 15.07.2022, dass er in der Versammlung am 23.11.2021 ausdrücklich darauf hingewiesen habe, dass nach der neuen Rechtslage für einen Beschluss im Umlaufverfahren die Mehrheit der Stimmen ausreiche, ändert hieran nichts. Ob der Hinweis für die Wohnungseigentümer, die an der Versammlung teilgenommen haben, hinreichend deutlich war – was eine Feststellung des konkreten Wortlauts und der Umstände voraussetzen würde -, kann dahingestellt bleiben. Ein Dritter, der an der Versammlung nicht teilgenommen hat, konnte einen solchen Hinweis dem Versammlungsprotokoll nicht entnehmen.
3. Der im Umlaufverfahren gefasste Beschluss ist deshalb nichtig (vgl. Hügel/Elzer, Wohnungseigentumsgesetz, 3. Aufl., § 23 Rdnr. 110).
Die Nebenentscheidungen ergeben sich aus §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 11, 711 ZPO.