LG Berlin – Az.: 65 S 231/19 – Urteil vom 29.01.2020
In dem Rechtsstreit hat das Landgericht Berlin – Zivilkammer 65 – aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 29.01.2020 für Recht erkannt:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Neukölln vom 10. September 2019 – 10 C 108/19 – teilweise abgeändert und unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels wie folgt neu gefasst:
Das Versäumnisurteil wird mit der Maßgabe aufrechterhalten, dass die Beklagten verurteilt werden, die ca. 81,05 qm große Wohnung ### Berlin, Vorderhaus, 1. OG links bis zum 29. Februar 2020 zu räumen und geräumt an die Klägerin herauszugeben.
Im Übrigen wird das Versäumnisurteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz haben die Beklagten zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Revision wird nicht zugelassen.
Den Beklagten wird eine Räumungsfrist bis zum 31 Juli 2020 gewährt.
Gründe:
I.
Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß §§ 313 a, 540 Abs. 2, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO abgesehen.
II.
1. Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist begründet. Die der Entscheidung zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen – auf den Hilfsantrag – eine andere Entscheidung, §§ 513, 529, 546 ZPO.
Die Klägerin hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Räumung und Herausgabe der von diesen inne gehaltenen Wohnung aus § 546 Abs. 1 BGB. Die von der Klägerin mit Schreiben vom 3. Mai 2019 ausgesprochene Kündigung hat das zwischen den Parteien bestehende Mietverhältnis fristgemäß beendet, §§ 573 Abs. 1, 2 Nr. 1 BGB, 573c Abs. 1 BGB, nicht aber fristlos nach § 543 Abs. 1 Satz 1 BGB.
a) Zutreffend ist das Amtsgericht von der Zulässigkeit der Klage ausgegangen. Soweit die Beklagten meinen, die Kenntnisnahme der Kündigung vereitelt haben zu können, indem sie mehrere Tage nicht den Posteingang in ihrem Briefkasten überprüften, verkennen sie, dass Kenntnisnahme und Zugang, § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht gleichbedeutend sind. Zugegangen ist eine Willenserklärung (bereits) dann, wenn sie so in den Bereich des Empfängers gelangt ist, dass dieser unter normalen Umständen die Möglichkeit hat, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen, wobei es auf die abstrakte Möglichkeit der Kenntniserlangung, nicht die tatsächliche Kenntnisnahme ankommt (vgl. st. Rspr. BGH, Urt. v. 21.01.2004 – XII ZR 214/00, NJW 2004 1320f, nach beck-online). Üblicherweise werden Briefkästen – jedenfalls an Wochentagen – spätestens am Abend geleert. Wenn die Beklagten davon – aus welchen Gründen auch immer – absehen, so haben sie das Risiko zu tragen (BGH, aaO). Dass die Erkrankung eines Kindes beide Beklagte gehindert haben soll, den Briefkasten zu leeren, erschließt sich schon nicht. Dass auch die älteren, im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung 13- bis 16 – jährigen Kinder dazu nicht in der Lage waren, tragen die Beklagten nicht einmal vor. Es mag keine rechtliche Verpflichtung zum Leeren eines Briefkastens bestehen; wer davon absieht, hat die Folgen allerdings selbst zu tragen.
b) Die Kündigung vom 3. Mai 2019 hat das Mietverhältnis nicht fristlos nach § 543 Abs. 1 BGB beendet.
Nach § 543 Abs. 1 Satz 1 BGB kann jede Vertragspartei das Mietverhältnis aus wichtigem Grund außerordentlich fristlos kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eines Verschuldens der Vertragsparteien, und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur sonstigen Beendigung des Mietverhältnisses nicht zugemutet werden kann.
Diese Voraussetzungen sind noch nicht gegeben.
Die Beklagten sind im Vorprozess (AG Neukölln: 7 C 241/17 = LG Berlin 65 S 147/18) durch Urteil des Amtsgerichts Neukölln zur Zahlung von 4.462,50 Euro an die Beklagte verurteilt worden. Nachdem die Klägerin im Vorprozess mit der Berufung ihren Räumungsanspruch gegen die Beklagten weiterverfolgt hat, sind die Berufung der Klägerin sowie die von den Beklagten eingelegte Anschlussberufung – gerichtet gegen ihre Verurteilung zur Zahlung von Schadenersatz wegen des von ihnen verursachten Wasserschadens – vom Landgericht mit Urteil vom 14. Dezember 2018 zurückgewiesen worden. Ein Rechtsmittel gegen das den Parteien am 17. Januar 2019 zugestellte Urteil war – entgegen der Auffassung der Beklagten – nicht gegeben (vgl. § 26 Nr. 8 EGZPO).
In der Folgezeit haben die Beklagten von sich aus nichts unternommen, um den titulierten Schadenersatzforderung auszugleichen oder wenigstens mit der Klägerin etwaige Zahlungsmodalitäten zu klären.
(Auch) die Nichterfüllung titulierter Schadenersatzansprüche des Vermieters ist eine Vertragsverletzung (vgl. Schmidt-Futterer/Blank, Mietrecht, 14. Aufl. 2020, § 543 Rn. 186a). Angesichts des Umstandes, dass die Beklagten die laufende Miete (über das JobCenter) gezahlt haben, das JobCenter den Betrag vor Ablauf von zwei Monaten nach Rechtshängigkeit der Räumungsklage ausgeglichen hat (Rechtsgedanke des § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB), ist es der Klägerin aber zumindest zumutbar, das Mietverhältnis bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortzusetzen.
b) Die Kündigung vom 3. Mai 2019 hat das Mietverhältnis jedoch fristgemäß beendet, § 573 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB.
Danach kann der Vermieter das Mietverhältnis kündigen, wenn er ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses hat; ein solches liegt insbesondere dann vor, wenn der Mieter seine vertraglichen Pflichten schuldhaft nicht unerheblich verletzt hat.
aa) Zutreffend hat das Amtsgericht eine nicht unerhebliche Pflichtverletzung der Beklagten bejaht, da sie die titulierte Schadenersatzforderung weder ausgeglichen noch sonst eigenständig an die Klägerin herangetreten sind, um die Modalitäten des Ausgleichs zu klären. Die offene Forderung übersteigt die monatliche geschuldete Miete um ein mehrfaches. Sie ist unter Berücksichtigung (wiederum) des Rechtsgedankens der §§ 543 Abs. 1, 2 Nr. 3 a), b), 569 Abs. 3 Nr. 1 BGB nicht unerheblich. Die Kammer folgt den zutreffenden des Amtsgerichts nach eigener rechtlicher Prüfung.
bb) Die nicht unerhebliche Pflichtverletzung erfolgte auch schuldhaft, §§ 276, 278 BGB.
Zugunsten des Mieters als Korrektiv wirkt im Rahmen des § 573 Abs. 1, 2 Nr. 1 BGB die Tatbestandsvoraussetzung des Verschuldens, die dem Mieter die Möglichkeit gibt, sich etwa wegen einer unverschuldeten Zahlungsunfähigkeit oder unverschuldeter Zahlungsengpässe – zu entlasten, 280 Abs. 1 Satz 2 BGB (vgl. BGH, Urt. v. 13.04.2016 – VIII ZR 39/15, WuM 2016, 365; Urt. v. 10.10.2012 – VIII ZR 107/12, WuM 2012, 682; Beschl. v. 20.07.2016 – VIII ZR 238/15, WuM 2015, 682).
Soweit die Beklagten darauf verweisen, dass sie JobCenter-Leistungen empfangen, übersehen sie, dass sie das nicht davon entbindet, sich darum zu bemühen, den titulierten Anspruch zu erfüllen. Sie sind nach eigenen Angaben seit mindestens 10 Jahren auf Sozialleistungen angewiesen, so dass es sich keinesfalls um einen unvorhergesehenen Zahlungsengpass handelt. Da die Aufrechterhaltung der Verurteilung zur Zahlung absehbar war, war es naheliegend, dass sie sich bereits nach der erstinstanzlichen Entscheidung, in jedem Fall aber nach Zugang des zweitinstanzlichen, nicht anfechtbaren Urteils des Landgerichts im Vorprozess wenigstens beim JobCenter erkundigen, ob und unter welchen Bedingungen Hilfestellung geleistet werden kann. Nach ihrem eigenen Vorbringen haben sich die Beklagten erst am 24. April 2019 an das JobCenter gewandt; von dort ist ihnen unmittelbar ein Darlehen gewährt worden.
Unabhängig davon, dass es den Beklagten bereits seit Monaten oblag, selbst aktiv zu werden, haben sie auch das Schreiben der Klägerin vom 3. April 2019 ignoriert. Sie haben erstmals auf das Schreiben mit Kündigungsandrohung vom 15. April 2019 reagiert, ohne dass sich eine Erklärung ergäbe, weshalb sie so spät tätig geworden sind. Die Beklagten behaupten – von der Klägerin bestritten – zwar ein Telefonat der im damaligen Zeitpunkt noch 15-jährigen Tochter der Beklagten mit „der Hausverwaltung“, dies jedoch ohne jede Angabe mit welcher Person worüber, am Telefon gesprochen worden sein soll. Ob Telefonate am 24. und am 27. Mai 2019 – wiederum mit nicht benannten Personen – geführt wurden, kann dahin stehen, denn – wie ausgeführt – ließen diese Telefonate die schuldhafte Pflichtverletzung der Beklagten nicht entfallen. Im Ansatz zutreffend bewertet das Amtsgericht den Anspruch auf Gewährleistung des Existenzminimums für Menschen, die ihre Existenz nicht vorrangig selbst sichern können, sondern wirklich bedürftig sind (vgl näher BVerfG, Urt. v. 05.11.2019 – 1 BvL 7/16). Dieser Anspruch des Einzelnen Hilfebedürftigen richtet sich jedoch vorrangig gegen den Staat, nicht gegen Private, wie den Vermieter. Diesem werden für den Fall, dass er mit einem Sozialleistungsempfänger einen Mietvertrag schließt keine weitergehenden Pflichten auferlegt. Von – hier nicht gegebenen – Fällen abgesehen, in denen es dem Mieter aufgrund einer Erkrankung bzw. nach den oben benannten Maßstäben des BGH aufgrund eines unverschuldeten, unvorhergesehenen Zahlungsengpasses nicht möglich ist, fristgerecht seinen Verpflichtungen aus dem Vertragsverhältnis nachzukommen, obliegt es dem auf die Sozialleistungen angewiesenen Mieter selbst, sich um deren Bereitstellung zu bemühen. Das ist hier erst erheblich verspätet geschehen, ohne dass ersichtlich wäre, dass dies nicht auf die Nachlässigkeit der Beklagten bzw. eine gewisse Achtlosigkeit gegenüber den Interessen der Klägerin als Vermieterin zurückzuführen wäre.
dd) Auch sonst sind keine Umstände vorgetragen oder ersichtlich, die im Rahmen der nach § 573 Abs. 1 Satz 1 BGB weitergehend vorzunehmenden wertenden Betrachtung unter Würdigung und Gewichtung der konkreten Umstände des Einzelfalls die Bewertung tragen würden, dass ungeachtet der schuldhaften, nicht unerheblichen Pflichtverletzung – das heißt ungeachtet des Vorliegens des Tatbestandes des § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB – ein berechtigtes Interesse der Klägerin an der Beendigung des Mietverhältnisses dennoch (ausnahmsweise) nicht gegeben ist (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 20.07.2016 – VIII ZR 238/15, in: WuM 2016, 682; Urt. v. 04.02.2015 – VIII ZR 175/14, in: WuM 2015, 152; dem folgend: u. a. Kammer, Beschl. v. 04.10.2018 – 65 S 79/18, in: NJW-RR 2019, 334; Urt. v. 28.06.2018 – 65 S 45/18, in: ZMR 2019, 270; Urt. v. 08.06.2017 – 65 S 112/17, in: WuM 2017, 534).
Soweit die Beklagten sich darauf berufen, dass es sich um einen singulären Vorgang im Rahmen eines lang andauernden Mietverhältnisses und stets pünktlicher, anstandsloser Zahlungen der Beklagten handelt, ist die Klägerin dem unter Vorlage zahlreicher Mahnungen entgegen getreten. Die ALG II-Leistungen werden gemäß § 22 Abs. 7 SGB II (inzwischen) direkt an die Klägerin geleistet. Der Behauptung der Beklagten, die jeweiligen Zahlungsrückstände habe das JobCenter zu verantworten gehabt, steht ihre eigenen Einlassung entgegen, dass sie nach Zugang der Zahlungsaufforderungen das JobCenter rum einen Ausgleich mit oder ohne Kredit“ gebeten haben. Sie übersehen dabei, dass die Pflichtverletzung bereits in der Entstehung des Zahlungsrückstandes lag; da sie – nach eigenen Angaben – bereits seit über zehn Jahren JobCenter-Leistungen empfangen, kann ihre zuvor zitierte Einlassung nur dahin interpretiert werden, dass sie die Leistungen des JobCenters für Unterkunft und Heizung nicht zweckentsprechend an die Klägerin weitergeleitet haben. Im Übrigen reicht es keinesfalls aus, dem JobCenter unter Verzicht auf konkrete Angaben dazu, wann es denn entsprechend fristgerecht gestellte Anträge der Beklagten zögerlich bearbeitet hätte, ein Fehlverhalten oder eine nachlässige Bearbeitung vorzuwerfen.
Ein langjährig beanstandungsfrei durchgeführtes Vertragsverhältnis liegt jedenfalls nicht vor.
2. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 92 Abs. 2 Nr. 1, 344 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
3. Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 1, 2 ZPO nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordern. Es handelt sich um. eine Einzelfallentscheidung auf der Grundlage des Gesetzes und höchstrichterlich bereits entwickelter Maßstäbe.
4. Die Entscheidung über die Gewährung der Räumungsfrist beruht auf § 721 Abs. 1 ZPO. Sie soll den Beklagten Gelegenheit zur Wohnungssuche auf dem derzeit angespannten Wohnungsmarkt geben. Im Rahmen der Abwägung der Interessen der Klägerin und der Beklagten hat die Kammer berücksichtigt, dass die Außenstände beglichen sind und die laufende Nutzungsentschädigung direkt vom Jobcenter an die Klägerin gezahlt wird.