Skip to content
Menü

Eigenbedarfskündigung bei hohem Alter und schlechtem Gesundheitszustand der Mieterin

AG Nürnberg – Az.: 244 C 7495/18 – Urteil vom 21.11.2019

1. Die Klage wird abgewiesen.

Der zwischen der Beklagten und der … am 14.11.1963 geschlossene Mietvertrag über die im Erdgeschoss links des Anwesens … gelegene Zwei-Zimmerwohnung, bestehend aus zwei Zimmern, zwei halben Zimmern, Küche, Abstellraum, Flur, Bad, WC, Loggia und Kelleranteil ist zwischen der Klägerin und der Beklagten ab dem 01.11.2017 mit unveränderten Vertragsbedingungen auf unbestimmte Zeit fortzusetzen.

2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin kann die Zwangsvollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des gesamten vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Zwangsvollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Beschluss

Der Streitwert wird auf 5.839,20 € festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Räumung einer Wohnung.

Zwischen den Parteien besteht ein Mietverhältnis über die im Erdgeschoss links des Anwesens … gelegene Zweizimmer-Wohnung, bestehend aus zwei Zimmern, zwei halben Zimmern, Küche, Abstellraum, Flur, Bad, WC, Loggia und Kelleranteil. Daneben gibt es auch einen zur Wohnung gehörenden Garten. Einen Aufzug gibt es in dem Anwesen nicht. Die Beklagte ist 87 Jahre alt und wohnt seit 1963 in der Wohnung. In § 5 Nr. 1 des Mietvertrages ist folgendes geregelt: „Beide Vertragsteile können den Vertrag nur schriftlich durch Einschreibebrief kündigen, und zwar mit vierteljährlicher Frist zum Schluß eines Kalendervierteljahres.“ Im 3. Stock des Anwesens wohnen sowohl der Bruder der Klägerin, der Zeuge …, mit seiner Frau und ihren drei Kindern, als auch die Tochter der Beklagten, die Zeugin … Mit Schreiben des Grund- und Hausbesitzervereins Nürnberg und Umgebung e.V. vom 30.01.2017 kündigte die Klägerin das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs zum 31.10.2017 (vgl. Anlage K3). Die Kündigung erfolgte nicht durch Einschreibebrief. Mit Schreiben vom 04.08.2017 legte die Beklagte Widerspruch gegen die Eigenbedarfskündigung ein (vgl. Anlage K4). Mit Schreiben vom 03.12.2018 erfolgte nochmals eine Eigenbedarfskündigung zum 30.09.2019 (vgl. Anlage K5).

Die Klägerin behauptet, dass ihr Bruder, dessen Frau und drei Kinder die Wohnung im Erdgeschoss benötigen. Zum einen möchten sie den zur Wohnung gehörigen Garten nutzen, zum anderen sei ein Umzug vom 3. Obergeschoss in das Erdgeschoss notwendig, da der Zeuge … und dessen Frau gesundheitlich eingeschränkt seien, so dass eine Nutzung der Wohnung im 3. Obergeschoss mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen verbunden sei.

Die Klägerin beantragt: Die Beklagte wird verurteilt, die im Erdgeschoss links des Anwesens … gelegene Zwei-Zimmerwohnung, bestehend aus zwei Zimmern, zwei halben Zimmern, Küche, Abstellraum, Flur, Bad, WC, Loggia und Kelleranteil zu räumen und geräumt nebst bei Einzug überlassener Schlüssel an die Klägerin herauszugeben.

Die Beklagte beantragt: Die Klage wird abgewiesen.

Die Beklagte behauptet, sie habe einen Grad der Behinderung von 70. Sie habe einen Pflegegrad der Stufe 2. Weiterhin leide sie an Depressionen sowie Anpassungsstörungen mit Angstkomponenten. Sie sei extrem verwurzelt in der Wohnung und Umgebung. Weiterhin benötige sie die tägliche Unterstützung ihrer Tochter. Darüber hinaus verfüge sie auch nicht über die finanziellen Ressourcen für einen Umzug. Die Beklagte ist daher der Ansicht, dass es ihr nicht zumutbar sei die Wohnung zu räumen. Darüber hinaus sei bereits die Kündigung aufgrund § 5 des zwischen den Parteien bestehenden Mietvertrages unwirksam.

Mit Einverständnis der Parteien wurde der Prozess gemäß § 128 Abs. 2 ZPO mit Beschluss vom 12.11.2019 in das schriftliche Verfahren übergeleitet. Als Zeitpunkt, der dem Schluss der mündlichen Verhandlung entspricht und bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden konnten, wurde der 18.11.2019 bestimmt. In der mündlichen Verhandlung vom 25.03.2019 wurde Beweis erhoben durch die Zeugen …. Außerdem wurde Beweis erhoben durch das schriftliche Gutachten des Sachverständigen … vom 13.08.2019. Ergänzend wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und die Sitzungsprotokolle vom 10.01.2019, 25.03.2019 und 10.10.2019 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist abzuweisen.

Es ist auszusprechen, dass das Mietverhältnis zwischen den Parteien auf unbestimmte Zeit fortbesteht.

I.

(Kündigung vom 03.12.2018)

Das Kündigungsschreiben der Klägerin vom 03.12.2018 ist nicht Gegenstand dieses Rechtsstreits. Die Klägerin hat in ihrem Schriftsatz vom 28.12.2018 darauf hingewiesen, dass rein vorsorglich erneut eine Eigenbedarfskündigung zum 30.09.2019 ausgesprochen wurde und mitgeteilt, dass gegebenenfalls insoweit im Verhandlungstermin hilfsweise Räumung zum entsprechenden Zeitpunkt beantragt wird. In dem Verhandlungstermin vom 10.01.2019 erfolgte kein Hilfsantrag auf Räumung der Wohnung zum 30.09.2019. Darüber hinaus hat sich die Klägerin in keinem weiteren Schriftsatz auf die Eigenbedarfskündigung vom 03.12.2018 berufen.

II.

Die Klage ist zulässig.

Das Amtsgericht Nürnberg ist sachlich und örtlich gemäß § 1 ZPO iVm §§ 23 Nr. 2a GVG, 29a Abs.1 ZPO zuständig.

III.

Die Klage ist unbegründet.

1.

Der Klägerin steht gegen die Beklagte kein Räumungsanspruch gemäß §§ 546 Abs. 1, 566 Abs. 1 BGB zu.

a.

Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass zwischen ihnen ein Mietverhältnis über die im Erdgeschoss links des Anwesens … gelegene Zwei-Zimmerwohnung, bestehend aus zwei Zimmern, zwei halben Zimmern, Küche, Abstellraum, Flur, Bad, WC, Loggia und Kelleranteil nach §§ 535, 566 Abs. 1 BGB besteht.

b.

Die Kündigung vom 30.01.2017 (vgl. Anlage K3) ist wirksam.

(1)

(Form der Kündigung)

Das Kündigungsschreiben vom 30.01.2017 erfüllt die Formvorschriften.

Entgegen der Ansicht der Beklagten, ist die Kündigung nicht deshalb formunwirksam, weil sie nicht per Einschreibebrief gemäß § 5 Nr. 1 des Mietvertrages erfolgt ist.

Grundsätzlich kann die Vereinbarung der Kündigung per Einschreibebrief unterschiedlich ausgelegt werden, wobei im Regelfall aber davon auszugehen ist, dass die Übermittlung einer Erklärung durch Einschreibebrief lediglich der Beweissicherung dient. Die Nichtbeachtung der Übermittlungsform hat daher keinen Einfluss auf die Wirksamkeit der Kündigung (vgl. Schmidt-Futterer/Blank, 14. Aufl. 2019, § 542 BGB Rn. 72). So liegt der Fall auch hier. § 5 Nr. 1 des Mietvertrages wiederholt nochmals die gesetzliche Regelung des § 568 Abs. 1 BGB, dass die Kündigung schriftlich erfolgten muss. Dagegen dient die Vereinbarung, dass die Kündigung durch Einschreibebrief erfolgen soll lediglich der Sicherung des Nachweises des Zugangs (vgl. BGH in NJW 2013, 1082).

(2)

Darüber hinaus steht zur Überzeugung des Gerichts gemäß § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO nach der durchgeführten Beweisaufnahme durch Einvernahme des Zeugen … fest, dass der Kündigungsgrund des Eigenbedarfs gemäß § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB gegeben ist.

Nach dieser Vorschrift liegt ein Interesse des Vermieters an der Kündigung des Mietverhältnisses insbesondere vor, wenn er die Räume als Wohnung für seine Familienangehörigen benötigt. Eine Wohnung wird dabei bereits dann benötigt, wenn der Vermieter diese aus nachvollziehbaren und vernünftigen Gründen einem nahen Angehörigen zur Verfügung stellen will (vgl. BGH in NJW 2019, 2765 Rn. 18 mwN).

Der Zeuge … gab an, dass das Bewohnen der Wohnung im 3. Obergeschoss für ihn und seine Frau mit erheblichen Belastungen verbunden ist und dies – neben des Wunsches der Gartennutzung – der Grund für einen Umzug in die Wohnung im Erdgeschoss ist. Der Zeuge sagte aus, dass er insbesondere unter Glieder- und Rückenschmerzen und als Raucher auch unter Atemproblemen leide. Darüber hinaus gab er an, dass er die Treppen zu der Wohnung nur mit mehreren Pausen bewältigen kann. Er sagte aus, dass er beim Treppensteigen Schmerzen bekomme und schon nach Erreichen des 1. Stockwerks eine kleine Pause einlegen muss, bis sich die Schmerzen beruhigt haben. Außerdem gab er an, dass seine Frau unter sich verschlimmernden chronischen Rücken- und Schulterschmerzen leide. Beim Hinauftragen von Einkäufen, etc. bekomme sie nach seiner Aussage immer Schmerzen. Die Aussage des Zeugen ist glaubhaft. Seine Aussage war widerspruchsfrei. Weiterhin stimmt die Aussage auch mit den von der Klagepartei eingereichten ärztlichen Bescheinigungen überein (vgl. Anlagen K5 und K6). Darüber hinaus hat der Zeuge auf Nachfragen des Beklagtenvertreters auch in sich schlüssige Angaben dazu machen können, warum aufgrund der Kündigung vom 30.01.2017 erst mit der Klageschrift vom 29.10.2018 Klage erhoben wurde.

(3)

Gemäß § 573c Abs. 1 S. 1 BGB wurde das Mietverhältnis durch die Kündigung vom 30.01.2017 zum 31.10.2017 beendet.

b.

Die Beklagte hat gegen die Kündigung wirksam Widerspruch gemäß § 574 Abs. 1 S. 1 BGB erhoben.

Nach dieser Vorschrift kann der Mieter einer Kündigung des Vermieters widersprechen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist.

(1)

Mit Schreiben des … vom 04.08.2017 hat die Beklagte sowohl die Form, als auch die Frist des Widerspruchs gemäß § 574b Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 BGB gewahrt. In dem Schreiben ist der Einwand der sozialen Härte sowohl mit dem Alter der Beklagten, der Erkrankungen als auch ihrer finanziellen Verhältnisse begründet. Es wurde mitgeteilt, dass die Beklagte pflegebedürftig ist und der Belastung eines Auszugs psychisch nicht mehr gewachsen sei. Dies wurde von der Klägerin bestritten.

(2)

Nach der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Beendigung des Mietverhältnisses gemäß § 574 Abs. 1 S. 1 BGB für die Beklagte eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen der Klägerin nicht zu rechtfertigen ist.

(a)

Unter einer Härte im Sinne von § 574 Abs. 1 S. 1 BGB sind grundsätzlich alle Nachteile wirtschaftlicher, finanzieller, gesundheitlicher, familiärer oder persönlicher Art zu verstehen, die infolge der Vertragsbeendigung auftreten können, wobei nach der Rechtsprechung des BGH nur solche Nachteile Härtegründe darstellen können, welche sich von den mit einem Wohnungswechsel typischerweise verbundenen Unannehmlichkeiten deutliche abheben (vgl. Schmidt-Futterer/Blank, 14. Aufl. 2019, § 574 BGB Rn. 20, BGH in NJW 2019, 2765 Rn. 28 mwN).

Nach diesen Grundsätzen stellt die Beendigung des Mietverhältnisses für die Beklagte eine unzumutbare Härte dar.

Diesbezüglich ist in eine Gesamtwürdigung der Umstände einzustellen, dass die Beklagte unstreitig bereits seit dem Jahr 1963 in der streitgegenständlichen Wohnung lebt und bereits 87 Jahre alt ist. Die Beklagte gab darüber hinaus gegenüber dem Sachverständigen … an, dass die Umgebung für sie die Umgebung ihres Lebens sei, da sich dort alle für sie notwendigen und vertrauten Geschäfte, Apotheken und Ärzte befänden. Weiterhin gab sie an persönliche Kontakte neben ihrer Familie ausschließlich zu Nachbarn innerhalb dieses gewohnten und ihr vertrauten Milieus zu unterhalten (vgl. Seite 9 des Gutachtens). Dies stimmt auch mit der Aussage des Zeugen … überein, welcher angab, dass die Beklagte etliche Nachbarn in der Umgebung kennt und sich mit diesen auch öfters noch unterhält. Dies ergibt sich auch aus der Aussage der Zeugin … welche angab, dass die Beklagte bei ihren Rundgängen Kontakt zu anderen Leuten pflegt. Daraus ergibt sich, dass die Beklagte in dem Viertel tief verwurzelt ist. Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass die Beklagte Pflegestufe 2 aufweist. Dies ergibt sich aus den übereinstimmenden glaubhaften Aussagen der Zeugen …. Dies hat nach den Angaben der Zeugen auch zur Folge, dass die Zeugin … sich täglich in der Wohnung ihrer Mutter aufhält und ihr bei alltäglichen Dingen, wie Anziehen, Duschen und Kochen hilft. Die Zeugin … gab an, dass sie jeden Tag ca. von 11.00 Uhr bis 18.00/19.00 bzw. 20.00 Uhr bei der Beklagten ist. Weiterhin gab die Zeugin an, dass die Beklagte sie auch nach diesen Zeiten – auch nachts – anruft. Aus diesen Anrufen ergibt sich nach Aussage der Zeugin … oftmals auch die Notwendigkeit nochmals nach der Beklagten zu sehen. Da die Beklagte nicht in einem Alters- oder Pflegeheim versorgt werden möchte, müsste daher zwangsläufig auch die Zeugin … umziehen, wenn die Beklagte die Wohnung räumen muss. Die Zeugin … gab auch an, dass die Beklagte Probleme mit der Gehfähigkeit hat, da sie ihre Beine nicht mehr entsprechend hoch heben kann. Die Aussagen der Zeugen … und … sind glaubhaft. Sie sind widerspruchsfrei. Die Zeugen gaben an, wenn sie keine Angaben machen konnten. Darüber hinaus stimmen die Aussagen auch überein. Hinsichtlich der Gehfähigkeit der Beklagten ist die Aussage der Zeugin … ebenfalls glaubhaft, da sie mit der Aussage der neutralen Zeugin … übereinstimmt, welche ebenfalls aussagte, dass die Beklagte grundsätzlich sturzgefährdet sei. Darüber hinaus stimmt dies auch mit den Angaben des Sachverständigen … in seinem schriftlichen Gutachten vom 13.08.2019 überein. Auf Seite 12 des Gutachtens führt dieser aus, dass hinsichtlich des körperlich neurologischen Befundes eine eingeschränkte Abduktions-Adduktionsfähigkeit unter anderem des Musculus biceps femoris und des Musculus Semimembranosus (beides Oberschenkel) vorhanden ist. Weiterhin gibt der Sachverständige auch an, dass der Beklagten der Stand auf einem Bein nicht möglich ist. Die Zeugin … sagte darüber hinaus auch aus, dass die Beklagte in ihrer Praxis immer mit Begleitung erscheint und auf fremde Hilfe angewiesen ist. Darüber hinaus sagte die Zeugin auch aus, dass bei der Beklagten eine Anpassungsstörung vorliegt, wobei dies bei der Beklagten bedeute, dass sie Ängste bezüglich aller Situationen hat, welche auf sie zukommen. Dies äußere sich mit Schlafstörungen und Angststörungen, wobei sich dieser Zustand auch durch neue Situationen verschlechtern kann. Weiterhin gab die Zeugin an, dass sich die Anpassungsstörung durch die Gabe von Medikamenten (Lorazepam, Lormetazepam und Amineurin) nicht verbessert hat. Die Aussage der Zeugin … ist glaubhaft. Ihre Darstellung war in sich widerspruchsfrei, sie hat sich auf den Termin vorbereitet und kennt die Beklagte persönlich. Darüber hinaus stimmt ihre Aussage auch mit ihrem Attest vom 28.11.2018 überein (Anlage zum Schriftsatz der Beklagten vom 19.12.2018). Weiterhin stimmen ihre Angaben auch mit den Feststellungen des Sachverständigen … überein. Nach seinen Angaben in dem schriftlichen Gutachten vom 13.08.2019 weist die Beklagte passiv negativistische Tendenzen auf (vgl. Seite 11 des Gutachtens). Der Sachverständige kam im Rahmen seiner psychiatrischen Bewertung auf den Seiten 16, 17 und 18 des Gutachtens zu dem Schluss, dass die Beklagte unter einer nicht näher bezeichneten dementiellen Entwicklung F03 (insbesondere hochgradige Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit im psychopathologischen Befund/Psychometrie), einer generalisierten Angststörung (ICD 10: F41.1), einer organisch affektiven Störung (ICD-10 F06.4) und einer Benzodiazepinabhängigkeit (ICD 10: F13.2) leidet. Darüber hinaus leidet die Beklagte nach seinen Angaben unter einer selbstunsicheren, ängstlich vermeidenden, asthenischen Persönlichkeitskomponente (ICD-10: F60.6/7) und einer mittelgradig/schweren sozialen Anpassungsschwierigkeit. Den Ausführungen des Sachverständigen … ist zu folgen, da er als Leiter der Forensischen Psychiatrie des … die notwendige Sachkunde besitzt. Außerdem hat er die Beklagte persönlich begutachtet. Darüber hinaus sind seine Schlussfolgerungen widerspruchsfrei. Außerdem stimmen seine Beobachtungen mit den Zeugenaussagen überein. Letztendlich kommt der Sachverständige … zu dem Schluss, dass eine Veränderung des häuslichen Umfeldes im Rahmen einer Räumung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Gefährdung/Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Beklagten führen würde. Der Sachverständige kommt auf Seite 19 seines Gutachtens zu dem Schluss, dass die Defizite der Beklagten, welche auf Seiten 16 bis 18 des Gutachtens ausgeführt wurden, mit der Notwendigkeit eines besonderen, den Sicherheitsansprüchen der Beklagten genügenden Milieus gekoppelt sind. Außerdem gibt er an, dass eine Zunahme der bereits bestehenden ängstlichen Komponente in hohem Maße wahrscheinlich ist. Ebenso ist eine zusätzliche reaktiv depressive Komponente wahrscheinlich. Im Zusammenhang damit ist im Kontext zu der hirnorganischen Überlagerung nach den Ausführungen des Sachverständigen eine zusätzliche Gefährdung im Rahmen eines dementiellen Prozessbildes gegeben. Die Gesamtheit der Umstände dieses Einzelfalles zusammen genommen ergeben, dass für die Beklagte die Beendigung des Mietverhältnisses eine unzumutbare Härte gemäß § 574 Abs. 1 S. 1 BGB bedeuten würde.

Dagegen ist nicht zu berücksichtigen, dass die Beklagte auch geltend macht, dass ihr aufgrund ihrer finanziellen Verhältnisse die Beschaffung von zumutbarem Ersatzwohnraum nicht möglich sei. Bereits in der mündlichen Verhandlung vom 10.01.2019 wurde die Beklagte darauf hingewiesen, dass der Vortrag hierzu unsubstantiiert ist. Eine Ergänzung des Sachvortrages erfolgte daraufhin nicht.

(b)

Die zu berücksichtigenden Interessen der Klägerin ergeben sich aus dem Kündigungsschreiben vom 30.01.2017 (vgl. Schmidt-Futterer/Blank, 14. Aufl. 2019, § 574 BGB Rn. 62). Danach ist der Eigenbedarf zu berücksichtigen, den die Klägerin damit geltend gemacht hat. Wie bereits festgestellt, ist das Gericht nach der durchgeführten Beweisaufnahme davon überzeugt, dass der Eigenbedarf für den Bruder der Klägerin und seiner Familie tatsächlich bestehen.

(c)

Unter Berücksichtigung der gegenläufigen Interessen der Parteien fällt die gemäß § 574 Abs. 1 S. 1 BGB vorzunehmende Interessenabwägung in diesem Einzelfall zugunsten der Beklagten aus.

Bei der Interessenabwägung sind die Bestandsinteressen des Mieters mit den Erlangungsinteressen des Vermieters in Beziehung zu setzen. Es ist die Frage zu stellen, welche Auswirkungen eine Vertragsbeendigung für den Mieter haben würde und wie sich eine Vertragsfortsetzung auf den Vermieter auswirkt (vgl. Schmidt-Futterer/Blank, 14. Aufl. 2019, § 574 BGB Rn. 64). Dabei ist vor allem auch die Lebensplanung des Vermieters beziehungsweise seiner nahen Angehörigen zu respektieren. Darüber hinaus dürfen die Gerichte aber auch nicht hinsichtlich der Interessen des Mieters ihre Vorstellungen über den einzuschlagenden Weg an dessen Stelle setzen. Die Fortsetzung des Mietverhältnisses setzt dabei nach der Rechtsprechung des BGH auch gerade nicht voraus, dass die Härtegründe des Mieters die Interessen des Vermieters deutlich überwiegen (vgl. BGH in NJW 2019, 2765). Insbesondere muss sich die Beklagte entgegen der Ansicht der Klägerin nicht auf eine Unterbringung in einem Alten- oder Pflegeheim verweisen lassen (vgl. BGH in NJW 2019, 2765 Rn. 63). Der Wunsch der Beklagten nach häuslicher Pflege ist auch nicht objektiv unvernünftig (vgl. BGH in NJW 2019, 2765 Rn. 63), da nach der durchgeführten Beweisaufnahme zur Überzeugung des Gerichts feststeht, dass die häusliche Pflege durch die Zeugin … gewährleistet werden kann. Es wird insoweit auf die Ausführungen unter Ziffer III. 1. b. (2) (a) zur von der Zeugin … beschriebenen Pflegesituation Bezug genommen. Darüber hinaus ist der Beklagten entgegen der Ansicht der Klägerin auch nicht ein Umzug in den 3. Stock zuzumuten. Wie bereits erörtert, steht zur Überzeugung des Gerichts nach der durchgeführten Beweisaufnahme fest, dass die Beklagte nur eingeschränkt gehfähig ist und daher auch die Gefahr von Stürzen besteht. Auch wenn es sich nicht vermeiden lässt, dass die Beklagte zu ihrer Wohnung im Erdgeschoss ebenfalls Treppen steigen muss, so steigt die Sturzgefahr um so mehr Treppenstufen die Beklagte bewältigen muss. Unstreitig ist auch ein Aufzug in dem Anwesen nicht vorhanden. Ebenfalls verfängt das Argument der Klägerin nicht, dass die Beklagte die Wohnung ohnehin so gut wie nie verlässt. Insbesondere nimmt die Beklagte auch Arzttermine wahr. Dies ergibt sich aus der Einvernahme der Zeugin …. Darüber hinaus sagte auch die Zeugin … aus, dass sie mit der Beklagten Rundgänge und Arzttermine erledigt. Außerdem geht sie täglich einmal um den Häuserblock bzw. um die dort gelegene Tankstelle. Für den Fall der Räumung müsste mit aller Wahrscheinlichkeit auch die Zeugin … ausziehen. Darüber hinaus würde die Beklagte den Kontakt zu ihren Nachbarn verlieren. Weiterhin würde es in einer neuen Wohnung, welche der Beklagten vom Zuschnitt her unbekannt ist, zu einer erheblichen Sturzgefahr kommen. Dem Gegenüber stehen die gesundheitlichen Beschwerden des Zeugen … und seiner Frau. Hinsichtlich des Zeugen … ist zu berücksichtigen, dass eine Fortsetzung des Mietverhältnisses zur Folge hat, dass er weiterhin die Treppenstufen bis zu seiner Wohnung im 3. Stock unter Schmerzen und mit mehreren Pausen hochlaufen muss. Hinsichtlich der Frau des Zeugen ist zu berücksichtigen, dass sie weiterhin Einkäufe, etc. in den 3. Stock tragen muss, wodurch sich auch ihre Rückenschmerzen verschlimmern können. Allerdings ist hier auch zu berücksichtigen, dass der Zeugin nach der ärztlichen Bescheinigung vom 04.01.2018 generell geraten wird das fortwährende stetige Heben schwerer Lasten über 5 kg zu vermeiden und nicht nur bis in den 3. Stock. Die Auswirkungen einer Vertragsbeendigung für die Beklagte überwiegen daher die Folgen für die Fortsetzung des Vertrages für den Zeugen … und seine Frau.

c.

Die Beklagte kann die Fortsetzung des Mietverhältnisses zu gleichen Vertragsbedingungen auf unbestimmte Zeit gemäß § 574a Abs. 1 BGB verlangen.

(1)

Über die Fortsetzung des Mietverhältnisses ist gemäß § 308a Abs. 1 S. 1 ZPO auch ohne Antrag zu entscheiden.

Gemäß § 308 Abs. 1 S. 2 ZPO wurden die Parteien mit Verfügung vom 23.10.2019 darauf hingewiesen, dass eine Fortsetzung des Mietverhältnisses gemäß § 574a Abs. 1 BGB in Betracht kommt. Ihnen wurde gemäß § 308a Abs. 1 S. 2 ZPO Gelegenheit gegeben hierzu Stellung zu nehmen.

(2)

Das Mietverhältnis ist zu gleichen Vertragsbedingungen ab dem 01.11.2017 fortzusetzen.

Eine Veränderung der Vertragsbedingungen ist nach § 574a Abs. 1 S. 2 BGB nur angezeigt, wenn dem Vermieter nicht zumutbar ist, das Mietverhältnis zu den bisherigen Vertragsbedingungen fortzusetzen (vgl. BeckOK ZPO/ Elzer, 34. Ed. 01.09.2019, § 308a ZPO Rn. 25). Dies ist vorliegend nicht ersichtlich und wird von der Klägerin auch nicht geltend gemacht.

Dies bedeutet, dass der zwischen der Beklagten und der … am 14.11.1963 geschlossene Mietvertrag zwischen den Parteien weiterhin Anwendung findet.

Die Fortsetzung ab dem 01.11.2017 beruht darauf, dass die ordentliche Kündigung vom 30.01.2017 das Mietverhältnis zum 31.10.2017 beendet hat.

(3)

Der Mietvertrag ist auf unbestimmte Zeit fortzusetzen.

Hierbei handelt es sich um eine Ermessensentscheidung (vgl. BGH in NJW 2019, 2765 Rn. 69). Vorliegend ist ein Wegfall der Härtegründe nicht ersichtlich. Insbesondere wird sich die Gehfähigkeit der Beklagten in einem Alter von 87 Jahren nicht verbessern. Darüber hinaus wird auch die Verwurzelung in der Umgebung in Zukunft nicht wegfallen. Zwar ist der Klägerin recht zu geben, dass in Zukunft tatsächlich die Möglichkeit besteht, dass ein Gesundheitszustand eintritt, welcher eine stationäre Pflege erforderlich machen könnte. Allerdings handelt es sich hierbei um ein ungewisses Ereignis, welches zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorausgesagt werden kann, so dass die Dauer des Mietverhältnisses hiervon nicht abhängig zu machen ist. Zumal auch bei Bettlägerigkeit der Beklagten bis zu einem gewissen Grad weiterhin die Möglichkeit der Pflege durch die Zeugin … besteht.

2.

Darüber hinaus steht der Klägerin gegen die Beklagte auch kein Anspruch auf Herausgabe der Wohnung gemäß § 985 BGB zu.

Da die Beklagte die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen kann, steht ihr ein Recht zum Besitz gemäß § 986 Abs. 1 S. 1 BGB zu.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO.

Die Voraussetzungen des § 93b Abs. 2 S. 1 ZPO sind nicht gegeben, da die Klägerin von der Beklagten nicht verlangt hat unverzüglich über die Gründe des Widerspruchs gemäß § 574b Abs. 1 S. 2 BGB Auskunft zu erteilen. Vielmehr beinhaltete der Widerspruch der Beklagten vom 04.08.2017 bereits die Gründe in Grundzügen.

V.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

VI.

Nach der Kündigung vom 30.01.2017 beträgt die monatliche Grundmiete 486,60 €, so dass der Streitwert gemäß § 41 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 GKG auf 5.839,20 € festzusetzen ist.

Hinweis: Informationen in unserem Internetangebot dienen lediglich Informationszwecken. Sie stellen keine Rechtsberatung dar und können eine individuelle rechtliche Beratung auch nicht ersetzen, welche die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles berücksichtigt. Ebenso kann sich die aktuelle Rechtslage durch aktuelle Urteile und Gesetze zwischenzeitlich geändert haben. Benötigen Sie eine rechtssichere Auskunft oder eine persönliche Rechtsberatung, kontaktieren Sie uns bitte.

Unsere Hilfe im Mietrecht & WEG-Recht

Wir sind Ihr Ansprechpartner in Sachen Mietrecht und Wohneigentumsrecht. Vom Mietvertrag über Mietminderung bis hin zur Mietvertragskündigung.

Rechtsanwälte Kotz - Kreuztal

Rechtstipps aus dem Mietrecht

Urteile aus dem Mietrecht

Unsere Kontaktinformationen

Rechtsanwälte Kotz GbR

Siegener Str. 104 – 106
D-57223 Kreuztal – Buschhütten
(Kreis Siegen – Wittgenstein)

Telefon: 02732 791079
(Tel. Auskünfte sind unverbindlich!)
Telefax: 02732 791078

E-Mail Anfragen:
info@ra-kotz.de
ra-kotz@web.de

Rechtsanwalt Hans Jürgen Kotz
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Rechtsanwalt und Notar Dr. Christian Kotz
Fachanwalt für Verkehrsrecht
Fachanwalt für Versicherungsrecht
Notar mit Amtssitz in Kreuztal

Bürozeiten:
MO-FR: 8:00-18:00 Uhr
SA & außerhalb der Bürozeiten:
nach Vereinbarung

Für Besprechungen bitten wir Sie um eine Terminvereinbarung!