LG Hamburg – Az.: 311 S 60/10 – Urteil vom 02.09.2011
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Barmbek vom 26.08.2010, Az. 812 C 186/09, wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.
und beschließt:
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Berufungsverfahren auf 4.184,16 € festgesetzt.
Gründe
I.
Die Klägerin als Vermieterin einer Genossenschaftswohnung verlangt die geräumte Herausgabe der von der Beklagten genutzten Wohnung, bei der es sich um preisgebundenen, öffentlich geförderten Wohnraum handelt.
Hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen verwiesen auf den Tatbestand der erstinstanzlichen Entscheidung.
Das Amtsgericht hat die Klage durch Urteil vom 26.08.2010 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Kündigung vom 07.07.2009 gegenüber dem Treuhänder entfalte bereits keine Wirkung, weil dieser nicht Empfangsvertreter der Beklagten zu 1) sei und die Kündigung sich nur an ihn richte. Die weiteren erklärten Kündigungen seien ebenfalls unwirksam. Die §§ 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, 569 Abs. 3 BGB seien auf den streitgegenständlichen Dauernutzungsvertrag nicht unmittelbar anwendbar, weil die Klägerin in § 4 Abs. 4 dieses Vertrages ihr Kündigungsrecht dahingehend beschränkt habe, dass das Nutzungsverhältnis nur in besonderen Ausnahmefällen unter Einhaltung der gesetzlichen Fristen gekündigt werden könne, wenn wichtige berechtigte Interessen der Genossenschaft eine Beendigung des Nutzungsverhältnisses erforderlich machen. Die Vertragsklausel sei in der Weise auszulegen, dass § 4 Abs. 2 vollständig das Kündigungsrecht des Mieters und § 4 Abs. 4 vollständig das Kündigungsrecht des Vermieters regele, zumal in den Allgemeinen Vertragsbestimmungen Nr. 8, die das fristlose Kündigungsrecht der Genossenschaft regelt, gestrichen worden sei. Unter diesen Umständen sei für eine Kündigung durch den Vermieter Voraussetzung, dass die Kündigung den einzig zumutbaren Weg darstellt, den berechtigten Belangen der Genossenschaft Genüge zu tun. Dies sei hier nicht der Fall, weil die Klägerin auch Zahlungsklage habe erheben können.
Gegen das ihrem Prozessvertreter am 31.08.2010 zugestellte Urteil des Amtsgerichts hat die Klägerin mit am 13.09.2010 eingegangenem Schriftsatz die Berufung eingelegt und begründet. Sie meint, § 4 Abs. 4 des Dauernutzungsvertrags beschränke nicht das Recht der Klägerin zur außerordentlichen, sondern nur zur ordentlichen Kündigung. Die vertragliche Regelung sei so zu verstehen, dass § 4 Abs. 2 S. 1 das ordentliche Kündigungsrecht des Mitglieds und § 4 Abs. 4 das ordentliche Kündigungsrecht der Genossenschaft regele, während für die außerordentliche Kündigung beider Seiten § 4 Abs. 2 S. 2 auf die gesetzlichen Vorschriften verweise. Nr. 8 der Allgemeinen Vertragsbedingungen sei nur gestrichen worden, weil diese Klausel eine von den gesetzlichen Vorschriften abweichende Formulierung enthalte. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass der Zahlungsverzug in einer Höhe, welche nach den gesetzlichen Vorschriften eine Kündigung rechtfertige, auch ein wichtiges berechtigtes Interesse der Genossenschaft an der Kündigung auslöse.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Abänderung des am 26.08.2010 verkündeten Urteils des Amtsgerichts Hamburg-Barmbek, Az.: 812 C 186/09 zu verurteilen, die Wohnung L. weg, I. OG links, H., geräumt an die Klägerin herauszugeben sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von € 467,31 nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit an die Klägerin zu bezahlen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend Bezug genommen auf die in dieser Instanz zur Akte gereichten Schriftsätze.
II.
1.
Die gemäß §§ 517, 520 Abs. 2, 511 Abs. 2 ZPO zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Die Klägerin hat gegen die Beklagte weder aus § 546 BGB noch aus § 985 BGB einen Anspruch auf geräumte Herausgabe der streitgegenständlichen Wohnung, weil das zwischen den Parteien bestehende Mietverhältnis durch die von der Klägerin ausgesprochenen Kündigungen vom 7., 20. und 21. Juli sowie vom 1. Oktober 2009 nicht beendet worden ist. Die Kündigungen sind unwirksam, weil ein ausreichender Kündigungsgrund nicht gegeben war.
Hierbei kann dahinstehen, ob der Auslegung des Amtsgerichts zur folgen ist, nach der die Einschränkungen in § 4 Abs. 4 des Dauernutzungsvertrags auch die Möglichkeiten der Klägerin zur außerordentlichen Kündigung einschränken sollen. Hierfür spricht immerhin die Auslegung des Vertrags zu Lasten der Klägerin als Verwenderin von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, um die es sich bei dem Dauernutzungsvertrag handelt.
Auch unter Zugrundelegung der Anwendbarkeit der gesetzlichen Bestimmungen – sei es durch Auslegung in der Weise, dass das außerordentliche Kündigungsrecht beider Seiten in § 4 Abs. 2 S. 2 des Dauernutzungsvertrags geregelt ist oder das Vorliegen der gesetzlichen außerordentlichen Kündigungsgründe auch ein wichtiges berechtigtes Interesse der Klägerin an der Kündigung begründen würde – sind die ausgesprochenen Kündigungen jedoch unwirksam. Selbst wenn ein relevanter Zahlungsverzug gemäß §§ 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 a, 569 Abs. 3 Nr. 1 BGB im Juli 2009 durch Rückstand mit einem Teil der Junimiete von 30,50 € und der vollständigen Julimiete entstanden sein sollte, würde dieser Rückstand die Klägerin gemäß § 569 Abs. 3 Nr. 3 BGB in entsprechender Anwendung nicht zu einer Kündigung berechtigen.
Nach § 569 Abs. 3 Nr. 3 BGB kann der Vermieter das Mietverhältnis wegen Zahlungsverzugs des Mieters nicht vor Ablauf von zwei Monaten nach rechtskräftiger Verurteilung des Mieters kündigen, wenn der Mieter rechtskräftig zur Zahlung einer erhöhten Miete nach den §§ 558 bis 560 verurteilt worden ist, und wenn nicht die Voraussetzungen der außerordentlichen fristlosen Kündigung schon wegen der bisher geschuldeten Miete erfüllt sind. Durch diese Vorschrift soll der Mieter vor Kündigungen geschützt werden, die nur wegen eines Streits über Mieterhöhungen ausgesprochen werden. Dementsprechend ist die Vorschrift in der Weise auszulegen, dass eine Kündigung des Vermieters allein aufgrund von Rückständen mit Erhöhungsbeträgen der dort genannten Art bei einem vorhandenen Widerspruch des Mieters erst dann möglich ist, wenn der Mieter verurteilt worden und die Zahlung nicht binnen einer Frist von zwei Monaten seit Rechtskraft der Verurteilung erfolgt ist (vgl. Slaudinger-Emmerich, BGB, Neubearbeitung 2011, § 569 Rn. 54; Schmidt/Futterer-Blank, Mietrecht, 10. Auflage, § 569 Rn. 69 und § 543 Rn. 85). Soweit hiernach die ab dem 01.01.2009 geforderte erhöhte Nebenkostenvorauszahlung der Klägerin um 30,50 € nicht bei der Berechnung der rückständigen Miete einzubeziehen ist, ist mangels Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 a, 569 Abs. 3 Nr. 1 BGB im Übrigen die Kündigung unwirksam. Die Klägerin hat nicht dargelegt, die Beklagte überhaupt auf die Zahlung der erhöhten Mieten verklagt zu haben. Darauf, ob auch das Erhöhungsverlangen vom 10.06.2009 im Rahmen des § 569 Abs. 3 Nr. 3 BGB zu berücksichtigen ist, kommt es nicht an, weil dieses Erhöhungsverlangen allenfalls ab Juli 2009 Auswirkungen hat, für das Erreichen des relevanten Rückstands aber neben der Julimiete weitere Rückstände aus vorangegangenen Zeiträumen erforderlich sind.
Unmittelbar anwendbar ist § 569 Abs. 3 Nr. 3 BGB indes nicht, weil die Vorschrift nur Mieterhöhungen nach den §§ 558 bis 560 BGB erfasst, vorliegend die Forderung erhöhter Nebenkostenvorauszahlungen allerdings nicht auf § 560 BGB beruht, sondern auf § 11 des Hamburger Wohnraumbindungsgesetzes, weil es sich um öffentlich geförderten, preisgebundenen Wohnraum handelt.
§ 569 Abs. 3 Nr. 3 BGB ist aber entsprechend anwendbar auf Fälle wie den vorliegenden, in denen aus denselben Gründen, unter denen im preisfreien Wohnraummietverhältnis nach §§ 558 bis 560 BGB die Miete erhöht wird, im preisgebundenen Wohnraum nach den entsprechenden Sondervorschriften die Miete erhöht wird (vgl. LG Berlin, Urteil v. 13.04.1989,61 S 160/85, ZMR 1989, 305; LG Köln, Urteil v. 26.05.1994, 6 S 381/93, WuM 1995,593; AG Hamburg-Harburg, Urteil v. 21.10.2010, 650 C 275/09, ZMR 2011,558; Sternei, Mietrecht aktuell, 4. Aufl., Rn. XII 147; Voßbeck in: MietPrax, Fach 8, Rn. 687).
Eine planwidrige Regelungslücke für diesen Fall liegt vor. Zwar wird in der Literatur vertreten, dass der deutliche Wortlaut der Vorschrift gegen eine analoge Anwendung spreche (vgl. Häublein, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl., § 569 Rn. 35 m. w. N.). Dass der Gesetzgeber hiermit allerdings dem Vermieter preisgebundenen Wohnraums Privilegien bei der außerordentlichen Kündigung einräumen wollte, ist weder ersichtlich noch nachvollziehbar. Das Hamburger Wohnraumbindungsgesetz beinhaltet ebenso wie die entsprechende bundesgesetzliche Regelung keine Vorschriften zu Kündigungsrechten des Vermieters infolge von Mieterhöhungen, sodass hierfür nur auf die allgemeinen Regelungen des BGB zurückgegriffen werden kann. Dass wiederum der BGB-Gesetzgeber überhaupt mögliche Auswirkungen des jetzigen § 569 Abs. 3 Nr. 3 BGB auf preisgebundenen Wohnraum gesehen hat und regeln wollte, ist ebenfalls nicht ersichtlich.
Die Interessenlage ist in allen Fällen gleichgelagert: Dem Vermieter ist es zumutbar, den Streit über die Wirksamkeit der Mieterhöhung gerichtlich klären zu lassen, bevor es ihm ermöglicht wird, die für den Mieter härtere Konsequenz der Kündigung zu ziehen. Andernfalls würde der Vermieter von preisgebundenem Wohnraum die Möglichkeit erhalten, einen besonderen Druck auf den Mieter auszuüben, indem er ihn durch die drohende Kündigung dazu bewegt, Mieterhöhungen anzuerkennen, die möglicherweise nicht geschuldet sind. Ein Grund für eine solche Bevorzugung besteht nicht, zumal damit besonders die regelmäßig sozial schwächer gestellten und dadurch eher schutzbedürftigen Mieter preisgebundenen Wohnraums benachteiligt würden.
2.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision ist zuzulassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung gemäß § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO, weil die Frage der entsprechenden Anwendung des § 569 Abs. 3 Nr. 3 BGB auf preisgebundenen Wohnraum grundsätzliche Bedeutung hat und bisher obergerichtlich nicht geklärt ist.